alma abweisend

alma abweisend

kinderbuch

co-autorin noëmi sacher
96 s. | vierfarbig
14,8 x 21 cm | gebunden
kwasi verlag 2025 || 22 fr. | 19 €
ab 8 jahren und ab 6 jahren zum vorlese
ISBN 978-3-906183-36-7

rezensionen
neurodiversität

alma ist autistin. aus ihrer innensicht wird erzählt, wie das ist, wenn zu viel von außen auf sie einwirkt und sie mühe hat, den anderen zu erklären, wie das für sie ist. sie schafft es mithilfe ihrer schneckenhäuser. die innensicht offenbart auch, wie bunt und vielfältig ihr denken und fühlen ist, wenn auch nicht immer viel davon nach außen dringt.

matthias huber von der stiftung kind und autismus hat das nachwort für eltern und andere erwachsene geschrieben.

alma abweisend

beschreibung

alma geht eigentlich gern zur schule. sie muss aber höllisch aufpassen, dass nichts außergewöhnliches geschieht. wie an diesem verkorksten vormittag: alma will die wiese auf ihrem bild malen, doch robin hat ihr den grünen stift geklaut. und streitet es auch noch ab! sie muss aufs klo, und vor dem schulklo ekelt sie sich so. und am gleichen tag kommt auch noch ein neuer in die klasse. der ist vielleicht sogar nett, aber alma muss nun ausgerechet neben robin sitzen! dem stiftedieb, der nie ruhig sitzen kann und nichts als chaos verbreitet. alma muss alle konzentration aufbringen, damit der rumpelnde vulkan in ihrem inneren nicht ausbricht. dass sie dabei abweisend schaut, darum kann sie sich nicht auch noch kümmern.
robin muss weg. sonst kann sie nie mehr zur schule gehen! da müssen ihr hund merlin und die schnecken helfen.

leseprobe

Dieb im Klassenzimmer

Alma sucht ihren Stift, den dunkelgrünen. Damit will sie die Wiese auf ihrer Zeichnung ausmalen. Der Stift fehlt, obwohl das ganz und gar unmöglich ist. Alma hat ihn heute noch nicht benutzt. Und gestern hat sie ihn wie immer an seinen Platz in ihrer Federmappe gesteckt, zwischen dem hellgrünen und dem hellblauen Stift. Warum fehlt er jetzt?

Sie streckt ihren Arm in die Luft. Als Herr Feigenwinter sie aufruft, sagt sie: »Mein dunkelgrüner Stift fehlt.«

»Alma«, sagt der Lehrer, »gestern war es der blaue Stift …«

»Der hellblaue«, korrigiert ihn Alma. »Und vorgestern auch schon der dunkelgrüne.«

»Ja, eben. Und dann hast du deine Stifte doch wieder gefunden. Also wird der dunkelgrüne heute auch wieder auftauchen.«

»Aber ich brauche ihn jetzt«, beharrt Alma, »ich muss die Wiese ausmalen.«

»Dann such ihn«, bestimmt Herr Feigenwinter. »Oder nimm den hellgrünen. Aber lass die anderen in Ruhe zeichnen!«

Das geht aber nicht, findet Alma, dass sie den hellgrünen nimmt. Weil auf ihrer Zeichnung ist es Herbst, also muss das Gras dunkelgrün sein. Und suchen braucht sie den Stift auch nicht. Sie weiß, dass er weg ist. Er steckt ja nicht in der Halterung von ihrer Federmappe. Aber Alma sagt nichts mehr. Und zeichnet nicht mehr weiter. Die Zeichnung sieht toll aus, sie ist ihr richtig gut gelungen, findet sie. Aber wenn die Wiese nicht dunkelgrün ist, gefällt sie ihr nicht. Im Gegenteil, es macht sie traurig.

Sie stützt den Kopf auf ihre Hände und wartet. Etwas anderes fällt ihr nicht ein.

Dann merkt sie, dass sie aufs Klo muss. Ausgerechnet. Sie will auf keinen Fall in der Schule aufs Klo gehen. Dort riecht es so ekelhaft. Richtig schlimm. Darum geht sie immer am Morgen als Letztes aufs Klo, bevor sie zur Schule geht. Egal, ob sie Pipi machen muss oder nicht. Zur Sicherheit. Aber heute morgen hat Mama sie nicht gelassen, weil sie zu spät dran war. Und jetzt muss sie ganz dringend. Sie schaut sich um. Alle anderen zeichnen still. Nur Robin schräg vor ihr rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. Als ob er auch aufs Klo müsste. Aber Robin ist meistens so, er kann nicht stillsitzen. Darüber nervt sich Alma, weil sie sich dann nämlich nicht konzentrieren kann. Auf keinen Fall würde sie mit Kalila tauschen wollen. Die sitzt neben ihm. Dass die das aushält! Nur schon, wie er mit dem Stift über das Blatt fährt: mit großen Strichen vor und zurück und in jeder Richtung schießt er über den Blattrand hinaus. Allein das Zusehen macht Alma wuschig. Aber dann entdeckt sie, womit Robin da malt: Mit einem dunkelgrünen Stift! Mit ihrem Stift!

Sogleich will sie sich melden und Herrn Feigenwinter sagen, was sie gesehen hat. Aber ihr Arm bleibt unten. Das will gut überlegt sein. Oft reagiert Herr Feigenwinter ganz anders, als sie es erwartet. Und anders, als Frau Stocker reagiert hat, als sie noch ihre Lehrerin war. Sie überlegt sich genau, wie das Gespräch ablaufen könnte.

»Jaa?«, würde Herr Feigenwinter fragen.

»Robin hat meinen Stift«, würde sie sagen. Am besten ist es, kurz und knapp die Wahrheit zu sagen.

Dann würden alle aufschauen, zu Alma oder zu Robin. Alle würden sehen, dass Robin den dunkelgrünen Stift in der Hand hält. Das wäre gut!

»Robin, hast du Almas Stift?«, käme dann die Frage von Herrn Feigenwinter

Und dann müsste Robin Ja sagen. Weil klar, er hat ja ihren Stift.

Aber würde er das auch? Zuerst würde er wahrscheinlich auf seine Hand schauen und zurückfragen: »Was?«

»Der Stift in deiner Hand, hast du ihn aus Almas Federmäppchen genommen?«, würde der Lehrer nachfragen.

Und dann … Was wäre, wenn Robin einfach den Kopf schüttelt?

Der Lehrer würde laut einatmen und sagen: »Also, dann arbeitet alle weiter. Und du, Alma, beschuldigst bitte nicht die anderen Kinder, nur weil sie zufällig einen dunkelgrünen Stift in der Hand halten.«

Einige Kinder würden stöhnen oder sogar lachen. Sie würden ihr nicht glauben!

Dabei sieht sie es doch deutlich: Robin hat ihren Stift. Der hat genau die richtige Länge. Der goldene Schriftzug der Marke darauf stimmt auch. Die Spitze hat sie erst gestern neu geschärft, aber die ist schon völlig abgestumpft, weil Robin so fest aufdrückt und so wild zeichnet. Sogar der Tisch neben seinem Blatt ist schon ganz grün. Sicher hat Robin ihren Stift auch vorgestern schon genommen. Und gestern den hellblauen. Er braucht sich ja nur einmal umzudrehen und zuzugreifen. Aber es scheint, dass niemand sonst das so sieht. Glauben der Lehrer und die anderen etwa, dass sie lügt?!

Vor Schreck macht sie sich fast ein bisschen in die Hose. Sie kann das Pipi nicht mehr zurückhalten. Jetzt muss sie auch noch auf das Schulklo. Ein schrecklicher Tag!

Aber bevor sie hinausgeht, malt sie mit einem blauen Filzstift jeden ihrer Stifte auf der glatten, farbigen Seite an. Dann steht sie auf, bleibt neben ihrem Tisch stehen. Das ist das Zeichen, dass sie aufs Klo gehen möchte. Das hat Herr Feigenwinter ihnen so beigebracht, damit die Fragerei die anderen nicht stört.

Der Lehrer sieht sie, nickt ihr zu. Sie geht leise hinaus.

Draußen muss sie dann doch nicht mehr ganz so dringend Pipi machen. Sie hüpft auf einem Bein, dann auf dem anderen, aber das ändert nichts: Sie muss nicht mehr aufs Klo. Zum Glück! Aber zurück ins Klassenzimmer kann sie auch nicht gehen, sonst merkt ja der Lehrer, dass sie nicht auf dem Klo war. Also spaziert sie ein bisschen den Flur hinauf. Bis ganz vor zum Zimmer der Schulleiterin. Die Tür steht offen, Stimmen dringen heraus.

»Dann bringe ich Ennio jetzt mal in seine neue Klasse. Herr Feigenwinter ist ganz neu bei uns, und er macht das sehr gut.«

Alma horcht auf. Kriegen sie einen neuen Schüler? O nein! Das gibt Unruhe. Und vielleicht ist der Neue auch so zappelig wie Robin. Und wenn … wenn der neben ihr sitzt? Das geht nicht! Sie sitzt doch schon seit der ersten Klasse allein am Tisch. Das gefällt ihr, so hat sie ihre Ruhe beim Lernen. Und damit ist es aus, wenn Herr Feigenwinter den Neuen neben sie setzt. Und wenn der dann auch ihre Stifte nimmt? Und Herr Feigenwinter sagt, dass er das darf, weil er neu in der Klasse ist!

Alma würde am liebsten weinen, aber sie hält die Tränen zurück. Es ist nicht gut, wenn sie in der Schule weint. Dann muss sie erklären, warum, aber sie kann dann gar nicht reden, wegen der Tränen. Und der Lehrer wird ungeduldig und die anderen Kinder werden unruhig. Es ist besser, sie schluckt die Tränen hinunter. Das macht sie immer so.

Alma hört, wie Stühle gerückt werden im Zimmer drin. Gleich kommen sie heraus und der Neue sieht sie, und die Schulleiterin fragt, was sie hier draußen macht. Am liebsten würde sie sich irgendwo verstecken. Irgendwo, wo sie den neuen Schüler nicht kennenlernen müsste, auf dem Dachboden zum Beispiel. Aber dann könnte es passieren, dass der Hausmeister die Tür zuschließt und sie heute nicht nach Hause gehen könnte! Sie geht zurück zum Klassenzimmer, öffnet leise die Tür und schließt sie vorsichtig wieder. Leise sein ist anstrengend. Jetzt gerade noch viel anstrengender, denn alles in ihr möchte mit der entsetzlichen Neuigkeit herausplatzen: »Der Neue kommt!« Und die Tische stehen so nah beisammen, dass es fast unmöglich ist, nicht dagegenzustoßen. Wenn sie nicht aufpasst, dann schlenkern ihre Arme über ein Federmäppchen, das dann zu Boden fällt. Sie reißt sich mit aller Kraft zusammen und schleicht mit gesenktem Kopf zu ihrem Platz.

»Ich hab deinen Stift nicht, du Petze, du musst gar nicht so böse schauen!«, flüstert Robin ihr zu, als sie an seinem Tisch vorbeigeht.

Sie hat Robin gar nicht angesehen. Also kann sie ja auch gar nicht böse geschaut haben. Aber sie sagt nichts und setzt sich hin. Soll Robin doch denken, was er will.

Dann sieht sie, dass der dunkelgrüne Stift wieder in ihrem Federmäppchen ist. Aber nicht ordentlich an seinem Platz, sondern einfach reingeschmissen. Und die Spitze ist ganz flach. Sowas würde sie nie tun! Darum hat Robin gesagt, dass er den Stift nicht hat – weil er ihn zurückgelegt hat! Alma inspiziert ihn. Der dunkelgrüne ist jetzt der einzige Stift, der nicht angemalt ist. Aber halt: Am hellblauen ist die blaue Filzstiftfarbe verschmiert. Also hat Robin ihn wieder benutzt, als sie draußen war. Ha! Ihre Falle hat funktioniert. Jetzt hat Robin blaue Finger. So kann sie ihn überführen!

Sie schaut zu ihm nach vorn. Ob seine Finger blau sind, kann sie nicht erkennen. Aber seine Zeichnung hat hellblaue Stellen! Jetzt kann sie Herrn Feigenwinter alles sagen, jetzt hat sie echte Beweise. Aber ob das die anderen auch so sehen werden? Sie finden oft, dass ihre Beweise gar keine seien. Dann fängt es immer an zu brodeln, ganz tief in ihr drin. Und dann weiß sie immer nicht, was sie sagen soll, weil die Beweise, die sind ja klar. Auch wenn niemand außer ihr das so sieht wie sie.

Da klopft es an der Tür.

illustrationen

 

kein platz für uns

kein platz für uns

belletristik, jugendbuch

co-autorin noëmi sacher
448 s. |  11 sw-illustrationen von dinah wernli
15 x 21 cm | hardcover | mit lesebändchen
kwasi verlag 2024 || 33 fr. | 29 €
ab 15 Jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-34-3

rezensionen
neurodiversität

flora und elisabeth sind außenseiterinnen. wer mag, kann und wird sie als autistinnen sehen, die völlg unterschiedliche strategien des masking und der anpassung bzw. auflehnung verfolgen – so unterschiedlich, wie es die beiden autor*innen in ihrer jugend gemacht haben.
flora nimmt deutlich anders wahr. sie ist in ständigem kontakt mit der anderswelt, mit feen und dämonen, mit wassernixen und elfen. sie versteht nicht, warum andere diese wesen nicht sehen, aber sie entfernt sich von ihrer wahrnehmung als akt der anpassung. deutlich ist auch, dass sie mühe hat mit redewendungen und uneigentlichem sprechen (ironie, verstellung und lügen).
elisabeth fühlt sich unverstanden und angegriffen, weil niemand die welt so sieht, wie sie. sie entwickelt eine große wut auf das dorf, auf die ganze welt, als sie mit einem schlag ihre eltern verliert, ihren einzigen rückhalt. so isoliert sie sich völlig – bis flora kommt.

kein platz für uns

beschreibung

1806 zerstört der goldauer bergsturz vier dörfer, 457 menschen sterben und rüttelt das gesellschaftliche gefüge durcheinander.
das trifft auch flora und ihre herrin elisabeth. die beiden 17-jährigen außenseiterinnen suchen leidenschaftlich nach ihrem platz in der gemeinschaft:
flora, indem sie sich anpasst, elisabeth mit wütender auflehnung. das gegenseitige verständnis schweißt die beiden frauen zusammen, bis sie stärker sind, als es das dorf dulden kann.

ein sozialhistorischer roman über macht und ohnmacht, ordnung und unterordnung, liebe und wut, heimat und entwurzelung.

leseprobe

Elisabeth

Wahrscheinlich sollte ich weinen.
Die alten Vetteln werfen mir böse Blicke zu, vor allem die Harmettlerin. Die schaut so missbilligend, dass tiefe Furchen ihr Gesicht entstellen. Soll sie doch.
Ich habe keine Tränen. Auch keine Trauer. In mir ist es leer. Leer, während der Pfarrer den Segen spricht. Leer, während Vater heulend zusammensinkt. Leer, während ich dem Sarg zuschaue, der langsam ins Grab sinkt.
Die Blumen rutschen zitternd mit in die Tiefe. Die können nichts dafür, dass sie gleich mit Erde bedeckt werden. Sie haben niemandem etwas getan. Im Gegensatz zu all den Leuten hier, die Mitgefühl heucheln, obwohl sie uns hassen.
Und endlich spüre ich etwas. Erst heimlich im Bauch, dann heftiger, bis es brodelt. Und dann rauscht die Wut mit Wucht durch meine Brust. Sie ist mir willkommen. Wut auf das ganze Dorf! Auf die ganze Welt und auf Gott! Der immer nur so tut, als ob er gerecht wäre. Wut auf die Vetteln, die Mutter gehasst haben. Wut auf Vater, der ein jämmer­liches Bild abgibt. Sie lachen über ihn. »Wie er sich gehen lässt! Kein Rückgrat, keine Disziplin!« Und zerreißen sich über mich das Maul. »Kalt wie Schnee ist die. An der kannst du im Hoch­sommer den Most kühlen.« Und das Schlimmste: »Genau wie die Mutter.« Wie ich sie hasse!
Aber ich höre weg. Ich weiß ja, dass sie nur darauf warten, dass ich etwas Unüberlegtes tue. Dass ich mit den Händen in die aufgeschüttete Erde fahre und sie damit bewerfe. Meine Finger zucken bereits, und ich fühle, wie die Menge die Luft anhält.
Sie wollen es.
Sie wollen, dass ich um mich trete und heule. Sie warten darauf, genau wie die Krähen darauf warten, dass die letzten Soldaten das Schlachtfeld verlassen und sie sich auf die zurückgelassenen Leichen
stürzen können. Wenn der letzte Rest Selbstbeherrschung von mir abgefallen ist, werden sie sich auf mich stürzen. Sie werden meine schlechten Eigenschaften wie stinkende Eingeweide aus mir herausziehen und sich in ihrer moralischen Überlegenheit sonnen. Sie freuen sich darauf.
Allein dafür sind sie hergekommen.
Ich spüre, wie sich der Schrei in meinem Inneren aufbaut, wie der Zorn meine Brust aufwühlt und wie heiße Tränen – Tränen der Wut –
in meine Augenwinkel drängen. Und bevor ich etwas tue, was die Lästermäuler befriedigt, drehe ich mich um und renne davon. Blindlings.

Flora

Eine viertel Wegstunde gehn wir schweigend, bevor der Pfad wieder talabwärts führt. Mitten durch den Sumpf, und ich muss kichern, weil die feuchte Erde zwischen meine Zehen quillt. Und aufpassen muss ich, dass ich nicht ausrutsch. Der Bläsi hat mich noch geheißen, ich soll meine Kleider waschen, jetzt bin ich geputzt wie zu Ostern. Und da wärs ungeschickt von mir, dass ich die Röcke auf dem feuchten Boden verderb. Und dann müsst der Bläsi mich wieder mitnehmen, weil keine Herrschaft eine dreckige Magd in Dienst nimmt. »Nicht mal, wenn es Zwerge sind«, sag ich vor mich hin und muss schon wieder kichern.
Und dann bleib ich stehn, weil es mich so erstaunt, was ich seh. Vor uns stehn Häuser, aber die sehn nicht so anders aus als unsres. Was seltsam ist, das sind die Felsen, die zwischen ihnen liegen. Manche sind fast so groß wie die Häuser selbst. Dadurch sehn die tatsächlich so aus, als würden Zwerge darin wohnen, was natürlich nicht stimmt. Das seh ich jetzt auch. Die Felsen sind über die ganze Matte verteilt, als hätt eine Horde Riesen mit ihnen Murmeln gespielt. Und dazwischen wächst schönes, fettes Gras.
Jetzt dreht sich der Bläsi doch noch zu mir um. Und sagt endlich etwas, nämlich, dass die Steine wegen der Sündflut da liegen.
Die Geschichte hat mir die Katharina erzählt. Die ist aus der Bibel. Aber es leuchtet mir nicht ein, weshalb dann da Steine liegen sollen, wenn die Sündflut doch aus Wasser ist. Und dass die Sündflut gerade hier bei uns in Röthen gewesen ist, das hab ich mir auch nicht so vorgestellt. Aber mehr sagt der Bläsi nicht, und mir bleibt nichts übrig als ihm hinterherrennen, weil er geht schon wieder mit langen Schritten voraus.
Es ist seltsam, hier unten im Tal. Meine Füße laufen wie von allein. So, als ob sie gleich davonspringen wollen, wie junge Gitzi. Ich schau ihnen zu, wie sich eins so leicht vors andere setzt, und darüber verpass ich fast, wie wir ins Dorf kommen. Das erste Haus steht direkt am Weg. Es ist groß und hat einen riesigen Garten rundherum, und am Zaun wachsen Blumen in allen Farben. Ich hab noch nie gesehn, dass jemand Blumen im Garten pflanzt. Warum tun sie das? Die wachsen doch überall auf der Wiese. Aber der Bläsi lässt mir keine Zeit zum Staunen. Er geht einfach weiter. Da stehn noch mehr Häuser, und eins, das ist gar keins. Es sieht zwar so aus, aber es hat keine Zimmer, sondern unter dem Dach ist nur eine Brücke! So etwas hab ich erst recht noch nie gesehn. Warum baut jemand ein Dach über eine Brücke? Ich kann mir nur denken, dass dort ein Brückenwächter wohnt, ein Drache vielleicht. Und die Goldauer haben dem Wächter ein Dach gebaut, damit er gut auf die Brücke aufpasst. Das ist sehr lieb von ihnen. Der Fluss darunter schäumt aber auch sehr. Da ist es gut, dass sie den Brückenwächter gutmütig stimmen.
Direkt neben der Brücke steht ein großes Haus, und der Bläsi geht dort rein, während ich noch staun und mich umseh und es nicht fassen kann, dass diese Häuser zwei Reihen Fenster übereinander haben. Und dann folg ich dem Bläsi, und es ist alles so, als ob ich träumen würd: Ich steh in einem großen Raum mit Wänden aus ganz hellem Holz, und darin sind mehr Menschen, als ich je zusammen gesehn hab. Sie schwatzen und lachen laut, und der Bläsi, mein großer Bruder, der über alles Bescheid weiß und jedem die Meinung sagt, duckt sich an die Wand und schleicht um die Menschen herum, bis er einen entdeckt, den er anscheinend kennt. Er deutet auf mich, und jetzt merk ich, dass ich auch kleiner werd, als hätt jemand einen Zauber über mich gesprochen.
Aber da seh ich den Bläsi schon nicht mehr, denn mein Blick ist an einem wunderschönen Wesen hängengeblieben. Das muss ein Engel sein. Prachtvolle Locken hat er und Bänder in den Haaren, ein blaues Kleid umfließt ihn, und er spricht mit einem Mann, der Engel, in der himmlischen Sprache, mit einer warmen Stimme, aber verstehn tu ich nichts. Ich kann den Engel nur immer ansehn, und irgendwann wendet er seinen Blick zu mir. Ich hab noch nie einen Engel gesehn. Bei uns oben gibt es sie nicht. Feen schon, die sind auch sehr schön, wie sie in den Bäumen sitzen. Und dann und wann seh ich einen Drachen. Aber keine Engel. Ich schaue ihn mit offenem Mund an, und in diesem Moment weiß ich genau: Der Kari und der Josi haben unrecht, und es ist gut, dass der Bläsi mich hierhergebracht hat.

Elisabeth

Ich renne geradewegs auf die Friedhofsmauer zu. Sie ist nicht hoch, ich kann über sie hinwegspringen und verstecke mich auf der anderen Seite hinter der Linde. Das Versteck ist natürlich lächerlich, denn mir gegenüber ist die Sonne, und vor dem Eingang steht jemand. Eine Fremde. Sie schaut mich an. Mit großen Augen. Hat sie meinen Sturm über die Mauer beobachtet? Ich will das nicht! Ich bin schon drauf und dran, sie anzuschreien. Dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Dass sie verschwinden soll. Aber etwas hindert mich daran. Ich kann nicht anders, ich schaue sie genauer an. Sie kann nicht viel jünger sein als ich, sieht aus wie eine Bettlerin in ihren fadenscheinigen abgetragenen Röcken, von denen man unmöglich sagen kann, welche Farbe sie einmal hatten, und darunter schauen schmutzige Füße hervor. Verwahrlost von Kopf bis Fuß. Aber ihre Augen. Ihre Augen schauen mich freundlich an und so, als ob sie in mich hineinschauen könnten: ohne Argwohn, ohne Ekel, ohne Hinterhältigkeit.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mich schon einmal jemand so angeschaut hat.
Meine Wut kann sich nicht gegen sie richten. Schreien passt jetzt nicht. Aber was ich sonst tun soll, weiß ich nicht.
»Ich wart auf den Engel«, sagt das Mädchen. Fröhlich. Heiter. Und doch so, als ob sie ein Geheimnis nur mit mir teilen würde.
»Engel?«
Das Mädchen nickt. »Er ist da drin. Mein Bruder hat mich rausgeschickt, und jetzt wart ich. Vielleicht kommt der Engel raus.«
Ich frage mich, ob mit ihr alles stimmt. Mit Ausnahme der Leute in der Bibel kenne ich keinen, der je einen Engel gesehen hätte. Und was sollte ein Engel hier in Goldau?!
»Da!«, ruft sie und hüpft vor Freude. Sie strahlt die Frau an, die aus der Sonne kommt. Eine Fremde, wie sie im Sommer häufig anzutreffen sind. Sie tragen elegante Reisekleider, parlieren in fremden Sprachen, und alle müssen sie dringend auf den Rigi hinauf. Dann kommen sie zurück und schwärmen davon, wie wun-der-bar alles ist, wie romantisch und wild. Sie finden uns ent-zü-ckend, und ich finde sie zum Kotzen.
Jetzt kommt der durch und durch engelige Engel auf uns zu und reicht dem Mädchen einen Apfel, nicht ohne dabei gütig zu lächeln. Wahrscheinlich kommt die Frau sich jetzt vor wie Jesus, als er die Fische vermehrt hat.
Das Mädchen strahlt und ist drauf und dran, vor Dankbarkeit in die Knie zu sinken.
Ich räuspere mich vernehmlich, woraufhin mich die Frau abschätzig mustert. Ich habe ihren huldvollen Moment ruiniert. Tja. Sie geht zurück zu ihrer Reisegesellschaft, die sich um Anton schart. Den Apfel wird sie noch vermissen, wenn sie völlig außer Atem auf dem Staffel ankommt.
»Mir gefällt alles hier«, sagt das Mädchen zu mir und bietet mir den Apfel auf der flachen Hand an. Ich bin so überrascht, dass ich fast zugreife. Aber da fällt mir rechtzeitig ein, dass ein Apfel, so schrumpelig er im Frühling auch sein mag, für sie etwas Wertvolles sein könnte. »Lass nur«, sage ich abfällig, »davon haben wir noch genug im Keller.«
Schon wieder macht sie große Augen.
Ich fühle mich bei der Lüge ertappt, denn natürlich weiß ich nicht, was in unserem Keller noch vorrätig ist. Dafür ist schließlich Rosa da. »Woher kommst du denn?«, frage ich, obwohl ich nicht vorhatte, nett zu sein.
Sie deutet mit dem Apfel hoch zum Gnipen. »Ich bin das erste Mal im Tal.«
»Du wohnst dein ganzes Leben da oben und bist noch nie in Goldau gewesen?«, frage ich nach. Das muss ich mir auf der Zunge zergehen lassen.
»Noch nie.«
»Auch nicht in Buosigen oder Lauerz? Oder in Arth?«
Sie schüttelt den Kopf und lacht.
»Du warst dein ganzes Leben lang auf dem Berg!« Unvorstellbar. Aber dann … »Dann bist du noch nie in der Kirche gewesen?« Was für ein ungeheuerlicher Gedanke!
»Der Bläsi berichtet mir immer, was der Pfarrer gepredigt hat«, sagt sie, plötzlich ernst.
»Ja, aber warum gehst du nie mit in die Messe?« So viel Ketzertum!? Und das Mädchen sieht vollkommen gesund und zufrieden aus. Ich suche in ihrer Frisur nach Teufelshörnern. Vielleicht sprießen sie auch erst aus dem Kopf, wenn ich lange genug hinsehe.
»Der Bläsi findet das unnötig. Im Haus gibt es immer viel zu tun, weißt du. Früher ist noch die Katharina daheim gewesen, das ist meine Schwester. Aber jetzt mach ich die Frauenarbeit allein.«
Die sorglose Art, mit der sie das sagt, beeindruckt mich. Ich würde das auch gerne. Einfach die Kirche schwänzen und mir nichts dabei denken. »Und an Weihnachten?«
»Feiern wir im Wald.« Wieder zeigt sie hoch zum Berg.
Die Glocken der Kapelle schlagen an, und ich fahre zusammen. Die Beerdigung ist zu Ende! Jetzt werden gleich alle hier vorbeikommen und zum Leidmahl bei uns einkehren. Rosa ist schon seit Tagen am Vorbereiten. Sofort ist die Wut wieder da. Bekochen lassen sie sich natürlich trotzdem, all die Schandmäuler und Lästerzungen! Dabei war Rosa die Einzige aus dem Dorf, die immer zu Mutter gehalten hat. Von allen Menschen hätte sie zuvorderst am Grab stehen müssen, aber stattdessen hat sie ohne Pause gerüstet und gekocht und gedeckt. Nur für diejenigen, die froh sind, dass Mutter nun unter der Erde liegt. Die Ungerechtigkeit schnürt mir die Kehle zu, und ich verstecke mich hinter der Dorflinde. Ich will nicht gesehen werden. Und ich werde nicht dabei sein, wenn sie mit vor Neugier blitzenden Augen durch unser Haus ziehen und sich gegenseitig anstoßen und auf die Dinge zeigen, die ihrer Meinung nach nicht so sind, wie sie sein sollen.
Das Mädchen ist mir gefolgt und setzt sich auf die neue Bank. Ganz andächtig tut sie das und fährt mit den Handflächen über das glatt geschliffene Holz.
»Ich heiß Flora«, sagt sie.
»Elisabeth«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Und wundere mich wieder über mich. Warum antworte ich ihr überhaupt?

illustrationen

SUPERMA

SUPERMA

belletristik, kinderbuch

256 s. | 37 sw-illustrationen von andrea stergiou
15 x 21 cm | gebunden
kwasi verlag 2023 || 25 fr. | 23 €
ab 10 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-35-0

rezensionen
neurodiversität

pipe ist autist. seine ma beschließt, dass es so weit ist und er sich damit auseinandersetzen soll. sie schafft es, ihm aufzuzeigen, dass er ihr gar nicht so unähnlich ist. und sie ist selbst auch autistin.

natürlich weiß pipe schon lange, dass er besonders ist und anders als die anderen. als er sich aber aus seiner isolierung hinauswagt, findet er heraus, dass es andere gibt, die ihn verstehen und mit denen er sehr gut auskommt. er muss sich aber überwinden, denn diese anderen sind überhaupt nicht so, wir er sich seine möglichen freunde vorgestellt hat.

im nachwort erzählt matthias huber, psychologe und selbst autist, davon, wie es ist und was helfen kann, damit die soziale kommunikation und integration glückt.

SUPERMA

beschreibung

der elfjährige pipe hat zwei turbulente wochen vor sich – dabei ist ihm abwechslung ein graus. er liebt es, wenn die tage immer gleich ablaufen und gurke ihn möglichst in
ruhe lässt. doch jetzt mischt sich sofie in sein leben ein und behauptet, neu sofia zu heißen. milan, der viel älter und dick wie eine robbe ist, findet, sie seien kumpel. und
pipes mutter, die sich schon lange so peinlich benimmt, dreht nun völlig durch und rennt als angebliche superheldin durch die stadt: sie will pipes geklautes fahrrad
finden und nebenbei auch noch die welt retten. und natürlich findet pipes klasse doch noch raus, was sein name auf deutsch bedeutet.
pipe wünscht sich auch einen neuen namen, vor allem aber wünscht er sich auf den mond, denn dort ist es immer still und alles bleibt gleich. wie wunderbar!

leseprobe

Natürlich wäre es bequemer und schneller, wenn er sein Fahrrad bei der Schule abstellen würde. Aber das traut er sich nicht. Das Fahrrad haben seine Eltern gebraucht gekauft. Und das ist diesem Schrottteil anzusehen. Pipe ist das peinlich. Die anderen haben coole Bikes oder wenigstens richtige Fahrräder, die so teuer aussehen, wie sie waren. Seins kann er nicht vorzeigen, er würde garantiert ausgelacht werden. Dabei sind seine Eltern nicht etwa arm. Papa spielt Cello im Stadtorchester, Ma hat einen eigenen Frisier­salon. Nein, sie wollen ihm kein neues Fahrrad kaufen. Ma sagt: »Je mehr Neues es gibt, desto mehr Abfall gibt es auch.« Und Papa sagt: »Es ist ein solides Fahrrad. Das kannst du gut noch zwei Jahre fahren.«
Ausgerechnet in diesem Punkt sind sie sich einig! Sonst streiten sie über alles. Heute früh hat der Streit damit angefangen, dass Ma im Bademantel in die Küche gestapft kam und sich bei Papa beschwerte, dass er wieder nicht Wäsche gewaschen hat.
Papa sagte: »Ich wasche heute Nachmittag.«
Und Ma sagte: »Ach, und bis dahin geh ich nackt arbeiten?«
Pipe verschluckte sich an seinem Müsli.
Sara kicherte nur dämlich.
Sara ist seine kleine Schwester. Sie ist erst neun Jahre alt, hat nicht alle Tassen im Schrank und ist eins von Pipes größeren Problemen. Pipe braucht überhaupt keine Schwester. Dass er von allen möglichen Schwestern ausgerechnet Sara abbekommen hat, gehört zu den Dingen, für die er kein Verständnis aufbringt.
Papa meinte: »Du hast bestimmt noch etwas Sauberes zum Anziehen.«
Ma: »Ich brauch einen weißen BH. Die dunklen BHs schimmern durch die Bluse. Und heute hat der alte Stocker einen Termin, der weiß sowieso schon immer nicht, wo er hinschauen soll, wenn ich ihn rasiere.«
In diesem Moment hätte Pipe aufstehen und in seinem Zimmer weiteressen sollen, aber er schaffte es nicht mal, sich die Ohren zuzuhalten. Er brauchte alle Konzentration, um sich nicht vorstellen zu müssen, wie die Männer im Quartier auf Mas Busen starren.
Und er weiß ja, dass Ma nichts auslässt, was peinlich ist. Sie macht so viele Dinge, die sonst niemand macht, und merkt nicht mal, wie peinlich die Leute das finden. Und sie begreift auch überhaupt nicht, wie schlimm das für Pipe ist. Wenn er es ihr sagt, lacht sie nur und sagt: »Ach, nimm doch nicht alles so ernst.«
Papa erklärte: »Ich hab erst letzte Woche Unterwäsche ge­waschen. Du hast sicher noch was im Schrank.«
Ma: »Das war vor mindestens drei Wochen.«
Papa: »Quatsch, drei Wochen. Niemals!«
Ma: »Und nein: Ich hab keinen weißen BH mehr im Schrank. Dort hab ich nämlich gerade nachgeschaut. Ich könnte aber den quietschgelben anziehen, den mit den Kuss­mündern drauf, den ich für Fasching gekauft habe. Da freut sich der alte Stocker.«
Papa schlug vor: »Zieh halt eine dunkle Bluse an.«
Ma lachte schrill. »Genau, damit jedes Haar drauf zu sehen ist. Wasch doch nicht immer im letzten Moment. Der Wäschekorb muss ja nicht dauernd überquellen.«
Papa: »Der Wäschekorb ist gerade mal halb voll. Und ich hab ja gesagt, dass ich heute wasche.«
Und Ma: »Du warst gestern den ganzen Tag zu Hause, hättest gut gestern waschen können.«
Papa erklärte, dass er nicht den ganzen Tag rumsitze, sondern auch noch ein paar Stunden Cello üben müsse.
An diesem Punkt gab Pipe es auf, sein Müsli aufzuessen, denn er wusste, was folgen würde: die Diskussion, wer von beiden mehr arbeite, was richtige Arbeit sei, wer eigentlich mehr im Haushalt mache und sich besser um die Kinder kümmere. Er wollte nicht dabei sein, wenn entweder Ma anfing zu schreien oder Papa sich wortlos in sein Zimmer zurückzog. Oder beides. Er stand auf und machte sich auf den Schulweg.

illustrationen

 

meine größten erfolge

meine größten erfolge

belletristik, jugendbuch, kinderbuch

112 s. | ca. 200 farbige illustrationen von jacky gleich
20 x 25 cm | gebunden
kwasi verlag 2020 || 25 fr. | 23 €
ab 12 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-30-5

rezensionen

„Ungläubig lachend verfolgt man seinen verzweifelten Kampf um Liebe, wobei ihm der Panzer, den er sich zugelegt hat, regelmäßig alles ruiniert. Bruno Blume und Jacky Gleich ist ein ganz wunderbares Buch über eine verpasste Kindheit und Jugend gelungen, die sich dank eines Gesprächs und deutlicher Worte doch noch zum Guten wendet.“
verena hoenig, buchjournal 4|20

„Schüchtern, hässlich, klein und unbeliebt sei er gewesen, doch erlebt man ihn in dieser Mischung aus Graphic Novel und Comicroman trotzdem als unbeirrbaren Ritter auf der Minnesuche, als Liebenden mit Leidenschaft und Passion […], es gibt oberpeinliche Körbe, bittere Missver­ständ­­nisse und schrecklichen Liebeskummer. Nur unterkriegen lässt sich dieser Antiheld nicht “
marion klötzer, buch&maus 3|20

„Es liest sich humorvoll, berührend, tollpatschig, gemein, einsam und traurig.
Während dem Lesen fand ich mich in meine eigene Schulzeit und Verliebtheit zurückversetzt. Die Erzählung des Jungen, auf der Suche nach der Liebe berührte mein Herz. Lesenswert für Erwachsene und Jugendliche.“
katrin signer-roth, kklick.ch

neurodiversität

der kleine held in diesem buch wird nicht als autist benannt, er trägt aber besonders deutliche züge eines mittelschweren autismus-syndroms: er betrachtet die welt aus völlig eigener perspektive und wird von den anderen als sonderling und aussenseiter wahrgenommen. soziale interaktion ist ein besonderes abenteuer für ihn und es fällt vor allem den mitschülerInnen schwer, seine empathie zu erkennen. er ist dabei äusserst beharrlich in seinem weltbild und seinem vorgehen, denkt alles in seiner eigenen logik durch und braucht lange, bis er feststellt, dass er seine mitmenschen eher erreicht, wenn er sich ein wenig wie sie verhält.

meine größten erfolge in der liebe

nebst einigen misserfolgen und anderen dingen,
die ich auch noch lernte

beschreibung

ich war schon im kindergarten verliebt. in fränzi. inzwischen bin ich ein richtiger profi in sachen liebe. na gut, wenn ich mich als kleiner kerl in die mädchen verliebe und dabei immer wieder alles vermassle, gibt es viel zu lachen. obwohl oder gerade wenn ich den kummer wegen einem korb nicht überlebe.

bruno blume und jacky gleich haben mich zum comic-helden gemacht und erzählen von meinem liebesleben als kleiner junge bis zum erwachsen­werden. da hab ich immer deutlicher gemerkt, dass gar nicht die anderen komisch sind: ich war irgendwie anders. das hat schon damit begonnen, dass mich meine eltern zu wenig geliebt haben. jedenfalls hat mir das bei den mädchen eine menge probleme eingebrockt. zum schutz hab ich mir einen panzer zugelegt, aber das ganze ging trotzdem in die hose, weil ich so cool geworden bin, dass mein herz gefroren ist. ich musste echt um meinen platz im leben kämpfen.

leseprobe

Der Winter ging in den Frühling über, und was hatte ich geschafft?
Dass ich Simona mit Liebesbriefen nicht erreichen konnte, war nun sogar mir klar. Ich musste handeln!
Ich bestimmte einen Mittwoch zum Tag der Entscheidung und fuhr nach dem Mittagessen zu Simona. Also, fast bis zu ihr.
Ich wusste natürlich, wo sie wohnte, hatte viel freie Zeit in ihrem Quartier verbracht, wo auch Michi wohnte und viele Kinder zwischen den Hochhäusern spielten. Ich stellte mein Fahrrad in der Nähe ab und setzte mich ihrem Haus gegenüber auf einen riesigen Stein. Mein Entschluss stand fest: Ich würde so lange hier sitzen bleiben, bis Simona mich zu sich hochholen würde!
Ich wartete.
Es war kühl. Es war unbequem. Es war langweilig.
Ich wartete lange. Es waren keine anderen Kinder draußen. Oder ich nahm sie vielleicht einfach nicht wahr, weil ich voll auf Simona konzentriert war, auf das Fenster im fünften Stock, von dem ich wusste, dass dahinter ihr Zimmer lag. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es dort drin aussah, was mich dort erwarten würde.
Ich wartete, bis es dämmerte. Aber jetzt musste ich natürlich nicht nach Hause, nur weil es dunkel wurde. Ich war ja schon groß. Und ich war wild entschlossen, erfolgreich zu sein.

Der Vorteil der Dämmerung war, dass Simona in ihrem Zimmer Licht anmachte. Nun konnte ich sie genau sehen, ihre Umrisse zumindest, ihre halblangen Haare, konnte sehen, dass sie am Tisch saß und – schrieb! Simona schrieb!! Sie schrieb – mir. Endlich! Ich würde meinen ersten, echten Liebesbrief bekommen!
Ich wartete also umso erfreuter.
Da begann es zu regnen. Und das war noch besser! Klar, denn ich würde natürlich trotzdem dort sitzen bleiben, würde mich dabei erkälten, da ich nicht warm genug angezogen war, würde weiter sitzen bleiben, mir eine Lungenentzündung holen und sterben.
Aus Liebe sterben ist immerhin der zweitgrößte Erfolg. Nur zusammenkommen ist besser. Und natürlich konnte sich Simona das nicht leisten: Sie würde mich ja auf dem Gewissen haben, wenn ich wegen ihr sterben würde. Also musste sie mich zu sich hoch holen! Mein größter Erfolg stand unmittelbar bevor!
Da stand Simona auf.
Mir verschlug es den Atem.
Sie verließ ihr Zimmer.
Ich wurde unruhig.

illustrationen

 

vor kummer sterbe ich

vor kummer sterbe ich

vor kummer sterbe ich

vreneli und das plumpsklo am ende der welt

belletristik, jugendbuch

240 s. | 37 sw-illustrationen von mo richner
14,8 x 21 cm | hardcover mit lesebändchen
mit musik-cd | ca. 75 min.
kwasi verlag 2018 || 25 fr. | 23 €
ab 12 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-26-8

rezensionen

„Abwechslungsweise wird die Gedankenwelt der Jugendlichen von heute beschrieben. Dazwischen ist immer wieder die alte Liebesgeschichte eingeflochten. Eine spannende Geschichte über verschiedene Werte und Weltanschauungen, Modernität und altem Gedankengut. Auch für Erwachsene empfehlenswert.“
caroline breitenmoser, kklick.ch

„Gut durchdacht verknüpft der Autor historische Vorkomnisse aus dem 17. Jh. mit Fiktion und eigenem Erleben aus dem ländlichen Guggisberg von heute. Er lässt die drei Kinder ihre Situation in der neuen Umgebung und die Vreneligeschichte mit zunehmendem Interesse und in einer jeweils eigenen Sprache kommentieren. Geglückter Erhalt von Volksgut.
béatrice wälti-fivaz, querlesen auf kjmbefr.ch

links

illustratorin:
mo richner

verlag:
kwasi-verlag.ch

neurodiversität

onno ist autist. wer es nicht selber erkennt, kriegt von onnos bruder ganz am schluss den entscheidenden hinweis:

für onno ist es ein segen, dass seine eltern ihn aus der schule genommen haben und ihn zu hause selber lernen lassen. in diesem unschooling oder freilernen kann er ganz nach seinem eigenen rhythmus lernen, auch zu seinen zeiten, denn er kann abends lange nicht abschalten, schläft deswegen spät ein und muss am morgen erst um neun uhr loslegen. zu seinem glück brechen die eltern diesen selberlern-versuch nicht ab, als er monatelang nur comics liest – er holt später allen stoff locker nach.

dies ist mein erstes buch, in dem der begriff autist (bzw. asperger) wörtlich auftaucht, eine protagonist:in also konkret im autismus-spektrum verortet wird.

vor kummer sterbe ich

vreneli und das plumpsklo am ende der welt

beschreibung

’s isch äbe-n-e mönsch uf ärde – simelibärg!
– u ds vreneli abem guggisbärg
u simes hans-joggeli änet em bärg –
’s isch äbe-n-e mönsch uf ärde,
dass i möcht bi-n-ihm sy.

so beginnt das älteste schweizer volkslied – der roman erzählt die traurige liebesgeschichte dahinter: von vreneli in guggisberg und hans-joggeli von ännet em berg, die nicht heiraten dürfen, weil der ammann, seit dem tod ihres vaters vrenelis beistand, dagegen ist.
es ist die geschichte von reich gegen arm, von dorfmuff und flucht und einer großen liebe.

350 jahre später zieht eine familie gegen den willen der drei kinder aus der stadt nach guggisberg – in ein schiefes haus am ende der welt.
der vater erzählt ihnen die liebesgeschichte aus dem 17. jahrhundert, die 12- bis 15-jährigen kinder kommentieren sie witzig und bissig.

so kontrastieren ansichten und einsichten, weltanschauungen und persönliche bedürfnisse.

leseprobe

Das Einzige, was richtig geil ist: dass wir nicht mehr zur Schule müssen! Ich sag das immer mal wieder vor mich hin: Ich muss nie mehr zur Schule gehen. Nie mehr mit den Deppen in einem Zimmer hocken und das Gelaber der Lehrer aushalten. Es gab schon auch vernünftige Lehrer, aber die haben schnell aufgegeben,
weil die Deppen nichts gecheckt haben. Es gibt Fächer, die mich echt interessieren, so ist es ja nicht, aber gerade in denen war der Unterricht Kindergarten. Wenn ich mal was wissen wollte, eine echte Frage gestellt habe, haben die Lehrer nur gestottert, und die Deppen sind von den Stühlen gefallen vor Lachen, weil sie dachten, ich würde die Lehrer verarschen. Oder sie haben mich ausgelacht, kann auch sein. Ich hab mich darum nie gekümmert. Ich hatte immer etwas an mir, was die zum Lachen fanden. In der Grundschule hatte ich lange Haare, sie nannten mich Indianer. Kurz nachdem ich sie abgeschnitten hatte, kamen lange Haare in
Mode, und bald trug sie jeder lang außer ich. Da war ich der Loser.
Einfach, damit sie das Maul aufreißen und alle es den anderen nachquatschen konnten. […]

Es regnet. Es ist Sommer, aber es regnet. Es müsste schön und warm sein, aber es regnet. Schon seit vier Tagen. Heute ist der 6. September. Bis zum 23. ist noch Sommer. Da kann es nicht die ganze Zeit regnen.
Ich habe keine Lust aufzustehen. Ich bin liegen geblieben, als Papa mich geweckt hat. Er ist um 8.18 Uhr gekommen. Wir müssen um halb neun am Frühstückstisch sitzen. Ich finde, das ist zu früh. In Weimar mussten wir um 6.45 Uhr aufstehen. Jetzt können wir neunzig Minuten länger schlafen. Es müssten aber zwei Stunden sein. Dann wäre ich ausgeschlafen. Und Papa hat gesagt, wir dürfen zwei Stunden länger schlafen. Damit hat er uns hergelockt. Jetzt sagt er, er habe nur ungefähr zwei Stunden gemeint. Aber gesagt hat er zwei Stunden.
In Weimar hat es im Sommer nicht so viel geregnet. Hier sind die Wiesen schon ganz sumpfig. Auch an den Tagen, an denen es nicht regnet. Das Haus steht deswegen so schief. Es rutscht wegen dem vielen Wasser im Boden. Haben Papa und Mama gesagt. Ich bin mir nie sicher, was ich ihnen glauben kann. Ich weiß nicht, was sie ernst meinen. Oft sagen sie etwas im Scherz, ohne dass ich es merke. Oder sie sagen es im Scherz und meinen es doch ernst. Mir wäre es lieber, sie würden genau sagen, was sie denken: Das ist ein Fakt, das eine Meinung, das nur ein Witz. Aber ich habe schon begriffen, dass die Welt nicht so funktioniert. Ich muss alles selbst herausfinden. Dass das Haus schief steht, ist ein Fakt. Dass es rutscht, lässt sich leicht feststellen: Zwischen dem Boden der Veranda und der Hauswand klafft ein 28,8 Zenti­meter breiter Spalt. Es könnte natürlich auch bedeuten, dass die Veranda zur anderen Seite gerutscht ist. Aber die Mauer unter der Veranda steht ganz gerade. Die Kellermauer unter dem Haus nicht. Mama hat Angst, dass sie gleich zusammenkracht. Papa sagt: „Die steht seit fast 200 Jahren, jetzt wird sie noch ein paar Jahre stehen bleiben.“ Ich glaube, das meint er auch so. Ist aber Quatsch. Alles, was umfällt, hat davor gehalten. Manches fünf Sekunden, manches 500 Jahre. […]

Weil es so viel geschneit und dann wieder geregnet hat, hat Mama nur noch rumgejammert. Ich hatte auch keinen Bock mehr auf die Kälte und dass ich nicht rauskonnte. Nur Paps hat
ständig wiederholt: „Es ist eben Winter. Ist doch normal.“ Mama
hat ihn angefaucht: „Es ist Ende März“, und Paps ist raus­gegangen, Schnee schaufeln. Anfang Winter mussten wir noch helfen, den Weg bis zur Straße freizuschaufeln. Dann hat er nicht mehr gefragt, weil wir immer mehr gemeckert haben. Als er wieder reingekommen ist, hat er im Internet nachgeschaut und aus seinem Büro ge­rufen: „Im Tessin sind zwanzig Grad.“
Am nächsten Tag sind wir losgefahren.
Wir machen ja nicht oft Ferien, und wir fliegen nicht, wegen dem ökologischen Fußabdruck. Ich würde es auch so nicht wollen. Immerhin stürzen dauernd Flugzeuge ab. Und dann sind eigentlich immer alle tot. Da hilft es wenig, dass Fliegen angeblich die sicherste Art zu reisen ist. Wir haben im Internet nach einer Unter­kunft geschaut. Meine Eltern wollten eine Ferien­wohnung nehmen, wir in ein Hotel gehen. Paps hat gesagt, das sei zu teuer. Aber ich hab ihm gezeigt, wie wir ein billiges finden. Das kenne ich aus der Werbung auf Youtube. Und weil wir unter der Woche fahren konnten, gab es so günstige Hotels, dass wir sogar eins mit vier Sternen buchen konnten. In der Altstadt von Como, direkt hinter der Schweizer Grenze in Italien. Die Zugfahrt dauerte fünf Stunden, was ich mir schlimmer vorgestellt hatte. Dann waren wir dort, saßen im T-Shirt am See und aßen Eis. Drei Kugeln, jeden Tag mehrmals. Ich konnte sogar mein Sommerkleid anziehen.

illustrationen