kein platz für uns

kein platz für uns

belletristik, jugendbuch

co-autorin noëmi sacher
448 s. |  11 sw-illustrationen von dinah wernli
15 x 21 cm | hardcover | mit lesebändchen
kwasi verlag 2024 || 33 fr. | 29 €
ab 15 Jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-34-3

rezensionen
neurodiversität

flora und elisabeth sind außenseiterinnen. wer mag, kann und wird sie als autistinnen sehen, die völlg unterschiedliche strategien des masking und der anpassung bzw. auflehnung verfolgen – so unterschiedlich, wie es die beiden autor*innen in ihrer jugend gemacht haben.
flora nimmt deutlich anders wahr. sie ist in ständigem kontakt mit der anderswelt, mit feen und dämonen, mit wassernixen und elfen. sie versteht nicht, warum andere diese wesen nicht sehen, aber sie entfernt sich von ihrer wahrnehmung als akt der anpassung. deutlich ist auch, dass sie mühe hat mit redewendungen und uneigentlichem sprechen (ironie, verstellung und lügen).
elisabeth fühlt sich unverstanden und angegriffen, weil niemand die welt so sieht, wie sie. sie entwickelt eine große wut auf das dorf, auf die ganze welt, als sie mit einem schlag ihre eltern verliert, ihren einzigen rückhalt. so isoliert sie sich völlig – bis flora kommt.

kein platz für uns

beschreibung

1806 zerstört der goldauer bergsturz vier dörfer, 457 menschen sterben und rüttelt das gesellschaftliche gefüge durcheinander.
das trifft auch flora und ihre herrin elisabeth. die beiden 17-jährigen außenseiterinnen suchen leidenschaftlich nach ihrem platz in der gemeinschaft:
flora, indem sie sich anpasst, elisabeth mit wütender auflehnung. das gegenseitige verständnis schweißt die beiden frauen zusammen, bis sie stärker sind, als es das dorf dulden kann.

ein sozialhistorischer roman über macht und ohnmacht, ordnung und unterordnung, liebe und wut, heimat und entwurzelung.

leseprobe

Elisabeth

Wahrscheinlich sollte ich weinen.
Die alten Vetteln werfen mir böse Blicke zu, vor allem die Harmettlerin. Die schaut so missbilligend, dass tiefe Furchen ihr Gesicht entstellen. Soll sie doch.
Ich habe keine Tränen. Auch keine Trauer. In mir ist es leer. Leer, während der Pfarrer den Segen spricht. Leer, während Vater heulend zusammensinkt. Leer, während ich dem Sarg zuschaue, der langsam ins Grab sinkt.
Die Blumen rutschen zitternd mit in die Tiefe. Die können nichts dafür, dass sie gleich mit Erde bedeckt werden. Sie haben niemandem etwas getan. Im Gegensatz zu all den Leuten hier, die Mitgefühl heucheln, obwohl sie uns hassen.
Und endlich spüre ich etwas. Erst heimlich im Bauch, dann heftiger, bis es brodelt. Und dann rauscht die Wut mit Wucht durch meine Brust. Sie ist mir willkommen. Wut auf das ganze Dorf! Auf die ganze Welt und auf Gott! Der immer nur so tut, als ob er gerecht wäre. Wut auf die Vetteln, die Mutter gehasst haben. Wut auf Vater, der ein jämmer­liches Bild abgibt. Sie lachen über ihn. »Wie er sich gehen lässt! Kein Rückgrat, keine Disziplin!« Und zerreißen sich über mich das Maul. »Kalt wie Schnee ist die. An der kannst du im Hoch­sommer den Most kühlen.« Und das Schlimmste: »Genau wie die Mutter.« Wie ich sie hasse!
Aber ich höre weg. Ich weiß ja, dass sie nur darauf warten, dass ich etwas Unüberlegtes tue. Dass ich mit den Händen in die aufgeschüttete Erde fahre und sie damit bewerfe. Meine Finger zucken bereits, und ich fühle, wie die Menge die Luft anhält.
Sie wollen es.
Sie wollen, dass ich um mich trete und heule. Sie warten darauf, genau wie die Krähen darauf warten, dass die letzten Soldaten das Schlachtfeld verlassen und sie sich auf die zurückgelassenen Leichen
stürzen können. Wenn der letzte Rest Selbstbeherrschung von mir abgefallen ist, werden sie sich auf mich stürzen. Sie werden meine schlechten Eigenschaften wie stinkende Eingeweide aus mir herausziehen und sich in ihrer moralischen Überlegenheit sonnen. Sie freuen sich darauf.
Allein dafür sind sie hergekommen.
Ich spüre, wie sich der Schrei in meinem Inneren aufbaut, wie der Zorn meine Brust aufwühlt und wie heiße Tränen – Tränen der Wut –
in meine Augenwinkel drängen. Und bevor ich etwas tue, was die Lästermäuler befriedigt, drehe ich mich um und renne davon. Blindlings.

Flora

Eine viertel Wegstunde gehn wir schweigend, bevor der Pfad wieder talabwärts führt. Mitten durch den Sumpf, und ich muss kichern, weil die feuchte Erde zwischen meine Zehen quillt. Und aufpassen muss ich, dass ich nicht ausrutsch. Der Bläsi hat mich noch geheißen, ich soll meine Kleider waschen, jetzt bin ich geputzt wie zu Ostern. Und da wärs ungeschickt von mir, dass ich die Röcke auf dem feuchten Boden verderb. Und dann müsst der Bläsi mich wieder mitnehmen, weil keine Herrschaft eine dreckige Magd in Dienst nimmt. »Nicht mal, wenn es Zwerge sind«, sag ich vor mich hin und muss schon wieder kichern.
Und dann bleib ich stehn, weil es mich so erstaunt, was ich seh. Vor uns stehn Häuser, aber die sehn nicht so anders aus als unsres. Was seltsam ist, das sind die Felsen, die zwischen ihnen liegen. Manche sind fast so groß wie die Häuser selbst. Dadurch sehn die tatsächlich so aus, als würden Zwerge darin wohnen, was natürlich nicht stimmt. Das seh ich jetzt auch. Die Felsen sind über die ganze Matte verteilt, als hätt eine Horde Riesen mit ihnen Murmeln gespielt. Und dazwischen wächst schönes, fettes Gras.
Jetzt dreht sich der Bläsi doch noch zu mir um. Und sagt endlich etwas, nämlich, dass die Steine wegen der Sündflut da liegen.
Die Geschichte hat mir die Katharina erzählt. Die ist aus der Bibel. Aber es leuchtet mir nicht ein, weshalb dann da Steine liegen sollen, wenn die Sündflut doch aus Wasser ist. Und dass die Sündflut gerade hier bei uns in Röthen gewesen ist, das hab ich mir auch nicht so vorgestellt. Aber mehr sagt der Bläsi nicht, und mir bleibt nichts übrig als ihm hinterherrennen, weil er geht schon wieder mit langen Schritten voraus.
Es ist seltsam, hier unten im Tal. Meine Füße laufen wie von allein. So, als ob sie gleich davonspringen wollen, wie junge Gitzi. Ich schau ihnen zu, wie sich eins so leicht vors andere setzt, und darüber verpass ich fast, wie wir ins Dorf kommen. Das erste Haus steht direkt am Weg. Es ist groß und hat einen riesigen Garten rundherum, und am Zaun wachsen Blumen in allen Farben. Ich hab noch nie gesehn, dass jemand Blumen im Garten pflanzt. Warum tun sie das? Die wachsen doch überall auf der Wiese. Aber der Bläsi lässt mir keine Zeit zum Staunen. Er geht einfach weiter. Da stehn noch mehr Häuser, und eins, das ist gar keins. Es sieht zwar so aus, aber es hat keine Zimmer, sondern unter dem Dach ist nur eine Brücke! So etwas hab ich erst recht noch nie gesehn. Warum baut jemand ein Dach über eine Brücke? Ich kann mir nur denken, dass dort ein Brückenwächter wohnt, ein Drache vielleicht. Und die Goldauer haben dem Wächter ein Dach gebaut, damit er gut auf die Brücke aufpasst. Das ist sehr lieb von ihnen. Der Fluss darunter schäumt aber auch sehr. Da ist es gut, dass sie den Brückenwächter gutmütig stimmen.
Direkt neben der Brücke steht ein großes Haus, und der Bläsi geht dort rein, während ich noch staun und mich umseh und es nicht fassen kann, dass diese Häuser zwei Reihen Fenster übereinander haben. Und dann folg ich dem Bläsi, und es ist alles so, als ob ich träumen würd: Ich steh in einem großen Raum mit Wänden aus ganz hellem Holz, und darin sind mehr Menschen, als ich je zusammen gesehn hab. Sie schwatzen und lachen laut, und der Bläsi, mein großer Bruder, der über alles Bescheid weiß und jedem die Meinung sagt, duckt sich an die Wand und schleicht um die Menschen herum, bis er einen entdeckt, den er anscheinend kennt. Er deutet auf mich, und jetzt merk ich, dass ich auch kleiner werd, als hätt jemand einen Zauber über mich gesprochen.
Aber da seh ich den Bläsi schon nicht mehr, denn mein Blick ist an einem wunderschönen Wesen hängengeblieben. Das muss ein Engel sein. Prachtvolle Locken hat er und Bänder in den Haaren, ein blaues Kleid umfließt ihn, und er spricht mit einem Mann, der Engel, in der himmlischen Sprache, mit einer warmen Stimme, aber verstehn tu ich nichts. Ich kann den Engel nur immer ansehn, und irgendwann wendet er seinen Blick zu mir. Ich hab noch nie einen Engel gesehn. Bei uns oben gibt es sie nicht. Feen schon, die sind auch sehr schön, wie sie in den Bäumen sitzen. Und dann und wann seh ich einen Drachen. Aber keine Engel. Ich schaue ihn mit offenem Mund an, und in diesem Moment weiß ich genau: Der Kari und der Josi haben unrecht, und es ist gut, dass der Bläsi mich hierhergebracht hat.

Elisabeth

Ich renne geradewegs auf die Friedhofsmauer zu. Sie ist nicht hoch, ich kann über sie hinwegspringen und verstecke mich auf der anderen Seite hinter der Linde. Das Versteck ist natürlich lächerlich, denn mir gegenüber ist die Sonne, und vor dem Eingang steht jemand. Eine Fremde. Sie schaut mich an. Mit großen Augen. Hat sie meinen Sturm über die Mauer beobachtet? Ich will das nicht! Ich bin schon drauf und dran, sie anzuschreien. Dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Dass sie verschwinden soll. Aber etwas hindert mich daran. Ich kann nicht anders, ich schaue sie genauer an. Sie kann nicht viel jünger sein als ich, sieht aus wie eine Bettlerin in ihren fadenscheinigen abgetragenen Röcken, von denen man unmöglich sagen kann, welche Farbe sie einmal hatten, und darunter schauen schmutzige Füße hervor. Verwahrlost von Kopf bis Fuß. Aber ihre Augen. Ihre Augen schauen mich freundlich an und so, als ob sie in mich hineinschauen könnten: ohne Argwohn, ohne Ekel, ohne Hinterhältigkeit.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mich schon einmal jemand so angeschaut hat.
Meine Wut kann sich nicht gegen sie richten. Schreien passt jetzt nicht. Aber was ich sonst tun soll, weiß ich nicht.
»Ich wart auf den Engel«, sagt das Mädchen. Fröhlich. Heiter. Und doch so, als ob sie ein Geheimnis nur mit mir teilen würde.
»Engel?«
Das Mädchen nickt. »Er ist da drin. Mein Bruder hat mich rausgeschickt, und jetzt wart ich. Vielleicht kommt der Engel raus.«
Ich frage mich, ob mit ihr alles stimmt. Mit Ausnahme der Leute in der Bibel kenne ich keinen, der je einen Engel gesehen hätte. Und was sollte ein Engel hier in Goldau?!
»Da!«, ruft sie und hüpft vor Freude. Sie strahlt die Frau an, die aus der Sonne kommt. Eine Fremde, wie sie im Sommer häufig anzutreffen sind. Sie tragen elegante Reisekleider, parlieren in fremden Sprachen, und alle müssen sie dringend auf den Rigi hinauf. Dann kommen sie zurück und schwärmen davon, wie wun-der-bar alles ist, wie romantisch und wild. Sie finden uns ent-zü-ckend, und ich finde sie zum Kotzen.
Jetzt kommt der durch und durch engelige Engel auf uns zu und reicht dem Mädchen einen Apfel, nicht ohne dabei gütig zu lächeln. Wahrscheinlich kommt die Frau sich jetzt vor wie Jesus, als er die Fische vermehrt hat.
Das Mädchen strahlt und ist drauf und dran, vor Dankbarkeit in die Knie zu sinken.
Ich räuspere mich vernehmlich, woraufhin mich die Frau abschätzig mustert. Ich habe ihren huldvollen Moment ruiniert. Tja. Sie geht zurück zu ihrer Reisegesellschaft, die sich um Anton schart. Den Apfel wird sie noch vermissen, wenn sie völlig außer Atem auf dem Staffel ankommt.
»Mir gefällt alles hier«, sagt das Mädchen zu mir und bietet mir den Apfel auf der flachen Hand an. Ich bin so überrascht, dass ich fast zugreife. Aber da fällt mir rechtzeitig ein, dass ein Apfel, so schrumpelig er im Frühling auch sein mag, für sie etwas Wertvolles sein könnte. »Lass nur«, sage ich abfällig, »davon haben wir noch genug im Keller.«
Schon wieder macht sie große Augen.
Ich fühle mich bei der Lüge ertappt, denn natürlich weiß ich nicht, was in unserem Keller noch vorrätig ist. Dafür ist schließlich Rosa da. »Woher kommst du denn?«, frage ich, obwohl ich nicht vorhatte, nett zu sein.
Sie deutet mit dem Apfel hoch zum Gnipen. »Ich bin das erste Mal im Tal.«
»Du wohnst dein ganzes Leben da oben und bist noch nie in Goldau gewesen?«, frage ich nach. Das muss ich mir auf der Zunge zergehen lassen.
»Noch nie.«
»Auch nicht in Buosigen oder Lauerz? Oder in Arth?«
Sie schüttelt den Kopf und lacht.
»Du warst dein ganzes Leben lang auf dem Berg!« Unvorstellbar. Aber dann … »Dann bist du noch nie in der Kirche gewesen?« Was für ein ungeheuerlicher Gedanke!
»Der Bläsi berichtet mir immer, was der Pfarrer gepredigt hat«, sagt sie, plötzlich ernst.
»Ja, aber warum gehst du nie mit in die Messe?« So viel Ketzertum!? Und das Mädchen sieht vollkommen gesund und zufrieden aus. Ich suche in ihrer Frisur nach Teufelshörnern. Vielleicht sprießen sie auch erst aus dem Kopf, wenn ich lange genug hinsehe.
»Der Bläsi findet das unnötig. Im Haus gibt es immer viel zu tun, weißt du. Früher ist noch die Katharina daheim gewesen, das ist meine Schwester. Aber jetzt mach ich die Frauenarbeit allein.«
Die sorglose Art, mit der sie das sagt, beeindruckt mich. Ich würde das auch gerne. Einfach die Kirche schwänzen und mir nichts dabei denken. »Und an Weihnachten?«
»Feiern wir im Wald.« Wieder zeigt sie hoch zum Berg.
Die Glocken der Kapelle schlagen an, und ich fahre zusammen. Die Beerdigung ist zu Ende! Jetzt werden gleich alle hier vorbeikommen und zum Leidmahl bei uns einkehren. Rosa ist schon seit Tagen am Vorbereiten. Sofort ist die Wut wieder da. Bekochen lassen sie sich natürlich trotzdem, all die Schandmäuler und Lästerzungen! Dabei war Rosa die Einzige aus dem Dorf, die immer zu Mutter gehalten hat. Von allen Menschen hätte sie zuvorderst am Grab stehen müssen, aber stattdessen hat sie ohne Pause gerüstet und gekocht und gedeckt. Nur für diejenigen, die froh sind, dass Mutter nun unter der Erde liegt. Die Ungerechtigkeit schnürt mir die Kehle zu, und ich verstecke mich hinter der Dorflinde. Ich will nicht gesehen werden. Und ich werde nicht dabei sein, wenn sie mit vor Neugier blitzenden Augen durch unser Haus ziehen und sich gegenseitig anstoßen und auf die Dinge zeigen, die ihrer Meinung nach nicht so sind, wie sie sein sollen.
Das Mädchen ist mir gefolgt und setzt sich auf die neue Bank. Ganz andächtig tut sie das und fährt mit den Handflächen über das glatt geschliffene Holz.
»Ich heiß Flora«, sagt sie.
»Elisabeth«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Und wundere mich wieder über mich. Warum antworte ich ihr überhaupt?

illustrationen

SUPERMA

SUPERMA

belletristik, kinderbuch

256 s. | 37 sw-illustrationen von andrea stergiou
15 x 21 cm | gebunden
kwasi verlag 2023 || 25 fr. | 23 €
ab 10 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-35-0

rezensionen
neurodiversität

pipe ist autist. seine ma beschließt, dass es so weit ist und er sich damit auseinandersetzen soll. sie schafft es, ihm aufzuzeigen, dass er ihr gar nicht so unähnlich ist. und sie ist selbst auch autistin.

natürlich weiß pipe schon lange, dass er besonders ist und anders als die anderen. als er sich aber aus seiner isolierung hinauswagt, findet er heraus, dass es andere gibt, die ihn verstehen und mit denen er sehr gut auskommt. er muss sich aber überwinden, denn diese anderen sind überhaupt nicht so, wir er sich seine möglichen freunde vorgestellt hat.

im nachwort erzählt matthias huber, psychologe und selbst autist, davon, wie es ist und was helfen kann, damit die soziale kommunikation und integration glückt.

SUPERMA

beschreibung

der elfjährige pipe hat zwei turbulente wochen vor sich – dabei ist ihm abwechslung ein graus. er liebt es, wenn die tage immer gleich ablaufen und gurke ihn möglichst in
ruhe lässt. doch jetzt mischt sich sofie in sein leben ein und behauptet, neu sofia zu heißen. milan, der viel älter und dick wie eine robbe ist, findet, sie seien kumpel. und
pipes mutter, die sich schon lange so peinlich benimmt, dreht nun völlig durch und rennt als angebliche superheldin durch die stadt: sie will pipes geklautes fahrrad
finden und nebenbei auch noch die welt retten. und natürlich findet pipes klasse doch noch raus, was sein name auf deutsch bedeutet.
pipe wünscht sich auch einen neuen namen, vor allem aber wünscht er sich auf den mond, denn dort ist es immer still und alles bleibt gleich. wie wunderbar!

leseprobe

Natürlich wäre es bequemer und schneller, wenn er sein Fahrrad bei der Schule abstellen würde. Aber das traut er sich nicht. Das Fahrrad haben seine Eltern gebraucht gekauft. Und das ist diesem Schrottteil anzusehen. Pipe ist das peinlich. Die anderen haben coole Bikes oder wenigstens richtige Fahrräder, die so teuer aussehen, wie sie waren. Seins kann er nicht vorzeigen, er würde garantiert ausgelacht werden. Dabei sind seine Eltern nicht etwa arm. Papa spielt Cello im Stadtorchester, Ma hat einen eigenen Frisier­salon. Nein, sie wollen ihm kein neues Fahrrad kaufen. Ma sagt: »Je mehr Neues es gibt, desto mehr Abfall gibt es auch.« Und Papa sagt: »Es ist ein solides Fahrrad. Das kannst du gut noch zwei Jahre fahren.«
Ausgerechnet in diesem Punkt sind sie sich einig! Sonst streiten sie über alles. Heute früh hat der Streit damit angefangen, dass Ma im Bademantel in die Küche gestapft kam und sich bei Papa beschwerte, dass er wieder nicht Wäsche gewaschen hat.
Papa sagte: »Ich wasche heute Nachmittag.«
Und Ma sagte: »Ach, und bis dahin geh ich nackt arbeiten?«
Pipe verschluckte sich an seinem Müsli.
Sara kicherte nur dämlich.
Sara ist seine kleine Schwester. Sie ist erst neun Jahre alt, hat nicht alle Tassen im Schrank und ist eins von Pipes größeren Problemen. Pipe braucht überhaupt keine Schwester. Dass er von allen möglichen Schwestern ausgerechnet Sara abbekommen hat, gehört zu den Dingen, für die er kein Verständnis aufbringt.
Papa meinte: »Du hast bestimmt noch etwas Sauberes zum Anziehen.«
Ma: »Ich brauch einen weißen BH. Die dunklen BHs schimmern durch die Bluse. Und heute hat der alte Stocker einen Termin, der weiß sowieso schon immer nicht, wo er hinschauen soll, wenn ich ihn rasiere.«
In diesem Moment hätte Pipe aufstehen und in seinem Zimmer weiteressen sollen, aber er schaffte es nicht mal, sich die Ohren zuzuhalten. Er brauchte alle Konzentration, um sich nicht vorstellen zu müssen, wie die Männer im Quartier auf Mas Busen starren.
Und er weiß ja, dass Ma nichts auslässt, was peinlich ist. Sie macht so viele Dinge, die sonst niemand macht, und merkt nicht mal, wie peinlich die Leute das finden. Und sie begreift auch überhaupt nicht, wie schlimm das für Pipe ist. Wenn er es ihr sagt, lacht sie nur und sagt: »Ach, nimm doch nicht alles so ernst.«
Papa erklärte: »Ich hab erst letzte Woche Unterwäsche ge­waschen. Du hast sicher noch was im Schrank.«
Ma: »Das war vor mindestens drei Wochen.«
Papa: »Quatsch, drei Wochen. Niemals!«
Ma: »Und nein: Ich hab keinen weißen BH mehr im Schrank. Dort hab ich nämlich gerade nachgeschaut. Ich könnte aber den quietschgelben anziehen, den mit den Kuss­mündern drauf, den ich für Fasching gekauft habe. Da freut sich der alte Stocker.«
Papa schlug vor: »Zieh halt eine dunkle Bluse an.«
Ma lachte schrill. »Genau, damit jedes Haar drauf zu sehen ist. Wasch doch nicht immer im letzten Moment. Der Wäschekorb muss ja nicht dauernd überquellen.«
Papa: »Der Wäschekorb ist gerade mal halb voll. Und ich hab ja gesagt, dass ich heute wasche.«
Und Ma: »Du warst gestern den ganzen Tag zu Hause, hättest gut gestern waschen können.«
Papa erklärte, dass er nicht den ganzen Tag rumsitze, sondern auch noch ein paar Stunden Cello üben müsse.
An diesem Punkt gab Pipe es auf, sein Müsli aufzuessen, denn er wusste, was folgen würde: die Diskussion, wer von beiden mehr arbeite, was richtige Arbeit sei, wer eigentlich mehr im Haushalt mache und sich besser um die Kinder kümmere. Er wollte nicht dabei sein, wenn entweder Ma anfing zu schreien oder Papa sich wortlos in sein Zimmer zurückzog. Oder beides. Er stand auf und machte sich auf den Schulweg.

illustrationen

 

tamatom. liebe, teufel, hühner

tamatom. liebe, teufel, hühner

tamatom. liebe, teufel, hühner

kinderbuch

sammelband der tamatom-reihe mit den ersten drei bänden
384 s. | ca. 220 sw-illustrationen von jacky gleich
14,8 x 21 cm | klappenbroschur
kwasi verlag 2013 || 3. auflage 2017
vergriffen!
ab 10 jahren
ISBN 978-3-906183-10-7

rezensionen

„unbeschwertes und zuversichtliches kinderbuch“
bernadette bullinger, 1001buch 03|05

„bruno blumes text ist mutig in der ausfaltung seines themas, direkt, nachvollziehbar und sensibel.“
verena stössinger, weiterfliegen. empfehlenswerte kinder- und jugendbücher 2008

„eine spannende und zuweilen auch komische geschichte rund um das thema liebe […] und besonders für kinder geeignet, die sich auf dem sprung in die pubertät befinden“
arbeitsgemeinschaft jugendliteratur und medien in der gew

„warmherzig erzählt“
wdr

„eine spannende geschichte, die aber auch zwischenmenschliche und religiöse bereiche thematisiert. sie dürfte als llassenlektüre für einigen diskussionsstoff sorgen.“
b. papadopoulos, kklick.ch

freundschaft, verliebtsein, schwierige familienverhältnisse, massentierhaltung, (un)gesunde ernährung, gentechnologie …  blume nimmt kinder […] ernst und scheut sich nicht, missstände zu benennen.“
doris lanz, querlesen von kjmbefr.ch

neurodiversität

die tamatom-reihe gehört zu meinen frühen büchern, in denen das autismus-syndrom noch keine große rolle gespielt hat.
da tamara und tom mir als kind nicht unähnlich sind – tom wie ich war und tamara wie ich gern gewesen wäre –, gibt es gleichwohl einige bezüge, die autist:innen liegen, etwa notwendige temporäre rückzüge, viel nachdenken und unkonventionelle lösungen.
als typisch für autist:innen empfinde ich auch die feste freundschaft zwischen den beiden, an der auch gelegentliche (heftige) meinungsverschiedenheiten nicht rütteln.

 

tamatom. liebe, teufel, hühner

beschreibung

tamara und tom sind tamatom und bestehen ein alltagsabenteuer nach dem anderen: monat für monat kannst du sie während einer woche begleiten: beim verlieben in der schule, dem teufel auf der spur im rittergut münchenstein, bei der supergeheimen hühner-befreiung.

der schmöker versammelt die vollständigen bände 1 (liebe), 2 (teufel) und 3 (hühner).

leseprobe

TamaTom und die Liebe
Völlig außer Puste setzt sich Tamara auf die Hofmauer. Sie hat zwar zwei Tore geschossen, aber sie haben trotzdem 10:8 ver­loren. Auf dem Feld streiten sich die Jungs über den Siegtreffer. Stefanie setzt sich neben Tamara und guckt zu den Jungs. „Hat Bastian nicht toll gespielt?”, fragt sie, und Tamara ahnt schon, was gleich kommt. „Er ist ja so süß!”, seufzt Stefanie übertrieben.
„Bist du nicht mehr in Eric?”, fragt Tamara.
„In Eric? Das ist doch ewig her”, entrüstet sich Stefanie. „Mit dem hab ich ja letzte Woche schon Schluss gemacht.”
Schmachtend schaut sie zu Bastian und schwärmt weiter: „Bastian ist viel hübscher. Und er passt so gut zu mir.”
Tamara will aufstehen, das interessiert sie nicht, aber Stefanie hält sie zurück. „In wen bist du verliebt?”, fragt sie lauernd. Weil Tamara nicht antwortet, hakt sie nach: „Bist du in Ehab oder in Tom?”
„Quatsch!”, ärgert sich Tamara. „Ich bin doch nicht verliebt! Tom ist mein bester Freund. Das ist alles.” Mit einem Ruck steht sie auf und geht rein. Das geht Stefanie gar nichts an!

TamaTom und die Teufel
Tamara öffnet die Augen. Sie liegt im Bett, Tom sitzt neben ihr und fragt: „Alles in Ordnung?“
Ruckartig richtet sie sich auf, schaut sich um. Als sie erkennt, dass sie im Zimmer in der Ferienwohnung ist, lässt sie sich stöhnend zurück ins Kissen fallen. „Uff! Das war vielleicht ein bescheuerter Traum. Besser, ich erzähl ihn dir nicht.“
„Sag nicht, du hast vom Schloss geträumt.“
„Irgendwie schon. Vom Weg dorthin. Und von dem Licht.“ Sie erzählt Tom den Traum beim Anziehen. Dann schleichen sie hinaus. Tom übernimmt das Wecken von Jo. Tamara setzt sich solange auf den Treppenabsatz und denkt über den Traum nach. Dass sie vom Licht träumt, leuchtet ihr ja noch ein. Aber warum vom Handy? Will ihr das was sagen?
‚Ich ruf morgen mal zu Hause an‘, beschließt sie.
Jo ist völlig verschlafen und muss sich am Geländer fest­halten, um nicht die Treppe runter­zufallen. Die kalte Luft im Hof tut ihr gut.
Plötzlich bleibt Tom stehen. „Da ist was!“, zischelt er.
Ein Schatten hat sich von der Hauswand gelöst. Es ist so dunkel, dass er kaum erkennbar ist. Der Mond ist weg, fällt Tamara auf, und dass es in ihrem Traum genau­so dunkel war.
„Bist du das, Ritschie?“, fragt Tamara.
„Hab schon auf euch gewartet“, antwortet Ritschie. „Wir haben Glück, es schlafen alle. Dummerweise ist der Mond schon untergegangen. Sein Licht hätten wir gut brauchen können. Jetzt muss es eben die Taschenlampe richten.“ Er hält etwas hoch und klopft mit dem Finger dagegen. Es ist eine große Stablampe. „Leuchtet dreißig Meter! Mach ich jetzt aber mal nicht an, damit uns niemand sieht.“
Ritschie ist offensichtlich hellwach und immer noch der Alte. Aber in dieser Dunkelheit ist es Tamara ganz recht, dass er so cool wirkt.

TamaTom und die Hühner
Die Hühner sitzen dicht gedrängt. Manche drehen ihre Köpfe zu ihnen. Leises Gackern ist von den Tieren zu hören, die nahe dem Mittelgang kauern. Diese Hühner sind nicht mehr süß, sondern ganz schön fett, obwohl sie noch nicht ausgewachsen sind. Sie tragen ganz kleine Kämme und sehen überhaupt un­fertig aus. Träge picken sie das gepresste Futter, das zwischen ihnen auf dem Boden herumliegt.
Hier gibt es nicht viel zu sehen. Es stinkt ganz schön und die gespenstische Stimmung wirkt bedrückend. Die Kinder sind froh, dass Herr Keller sie bald wieder hinausführt. Doch da sagt Mileva: „Da ist ein totes Huhn.“
Sofort bleiben alle stehen und schauen sich um. Ungläubig die einen, neugierig die anderen. Mileva zeigt in die Richtung und nach und nach sehen es alle: Ein Huhn liegt auf der Seite und rührt sich nicht.
Die Kinder rufen aufgeregt durcheinander: „Ist das wirklich tot? Warum liegt es dort? Was ist passiert? Warum ist es ge­storben?“

illustrationen

 

  

auszeichnungen

von den drei enthaltenen bänden wurde tamatom und die liebe ausgezeichnet:

  • schweizer kinder- und jugendmedienpreis, shortlist 2008
  • die 10 bremer besten, kinderjury 2005

zusammengenommen sind die tamatom-bände der verkausbestseller im kwasi verlag.

meretlein

meretlein

meretlein

jugendbuch, belletristik

40 s. | 6 doppelseitige sw-illustrationen von laura jurt
originaltext von gottfried keller
14,8 x 21 cm | klammerheftung
sjw 2012 || 7 fr. | 6 €
ab 12 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-7269-0617-7

rezensionen

Bruno Blume hat den Originaltext aus dem Grünen Heinrich so bearbeitet, dass auch heutige Jugendliche ihn verstehen können. Dabei hat er es geschafft, den Duktus der Sprache aus dem 19. Jahrhundert beizubehalten, so dass wir auch die historische Perspektive erfassen. Die Geschichte des hochbegabten, fantasievollen Mädchens, das nicht in die gottesfürchtige Zeit passt, hat seine Aktualität nicht verloren. Zwar geschieht es kaum mehr, dass Kinder wegen Ungehorsams geschlagen werden, dennoch sind wir weit davon entfernt, sagen zu können, dass Kinder nicht mehr misshandelt werden. Gerade die Verfremdung durch die Vergangenheit vermag, dass Jugendliche leichter über ihre diesbezüglichen Probleme sprechen können. Laura Jurts prägnante Zeichnungen unterstützen den Text in dessen Interpretation ausgezeichnet.
elisabeth tschudi-moser, pädagogisches zentrum basel-stadt, kjl.edubs.ch

„Was ist es, das mich so fesselt? Auf dem Cover des kleinen Heftchens blickt mich das Gesicht eines jungen Mädchens an. Seine Stirn ist bleich, die Augen groß und ernst. Seine Haare und der Hintergrund sind in rot gehalten. Die Farbe des Lebens, die Farbe des Feuers, die Farbe des Sterbens. Hinter der bleichen Haut leuchten grau die Augen des Todes. Hinter verschlossenen Lippen blitzen die Zähne im Schädel auf. Leben und Tod in einem. Empfunden und gezeichnet von der Schweizerin Laura Jurt, die Meretlein aus Gottfried Kellers Der grüne Heinrich das Antlitz verliehen hat […], dass es mich beim Lesen und Blättern schaudert.
Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das etwas Besonderes ist. Nun sind zwar alle Kinder etwas Besonderes – aber nicht jedes Kind erfährt Verständnis und Zuneigung, wenn es wirklich besonders ist, also anders ist als die anderen. Und besonders auffällig sind die, die sich den Regeln der gängigen Erziehung verweigern oder sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Konsens entziehen. […] Das Meretlein soll ein liebliches, ein zartes, ein schönes Kind gewesen sein. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird das Mädchen in Pflege zu einem Pfarrer auf das Dorf gegeben. Damit er es an Kindesstatt annehme und erziehe. Was dann an diesem Un-Ort geschieht, entfaltet […] eine Wucht, die uns noch heute das Herz zusammenkrampft. So notiert der Pfarrer in sein Tagebuch: Da sie die Bettdecke über den Kopf zieht, wenn ich abends mit ihr beten will, habe ich die Decke entfernen lassen. Muss sie nun frieren nachts, wird ihr das auf den rechten Weg helfen. Oder: Der kleinen Meret habe ich ihre wöchentlich zustehende Strafe erteilt. Dazu habe ich mir eine neue Rute besorgt, die ihr Werk ausgezeichnet verrichtet. Später wird sie in eine Räucherkammer eingesperrt, noch stärker gezüchtigt, einer Hungerkur ausgesetzt. Hilfe von anderen wird vereitelt. Mehrmals entwischt sie. Läuft zum See, springt ins Wasser, vergräbt sich in die Erde. Diese kleinen Fluchten werden noch intensiver durch die sehr klaren, einfachen schwarz-weiß Grafiken von Laura Jurt.
Das geht so lange, bis das Mädchen ganz und gar eingesperrt wird. […] Es ist die letzte Maßnahme, die der Pfarrer im Namen des Herren anwendet. Meretlein stirbt. […] Er hat sie von nun an auf dem Gewissen.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Das passiert heute noch. Weil sie Angst vor dem Anderen haben.“
annette maennel, weibblick.com

„Der Pfarrer hatte den Verlauf seiner Misshandlungen akribisch in einem Bericht festgehalten […]. Das Meretlein verblieb im Gedächtnis  als diejenige, die Fische und andere Tiere bannen und alle Menschen um sich herum verliebt machen konnte. Es ist eine Künstlerin!“
carola muysers, berlin-woman.de

„Bruno Blume hat diese eindrückliche, Spuren hinterlassende Geschichte in unsere Sprache gesetzt. Das Cover […] verrät, dass etwas Vergangenes, Trauriges drin steckt. In der Oberstufe einsetzbar bei historischen Tatsachenberichten. Ergreifend!
r. müller, kklick.ch

links

illustratorin:
laura jurt

verlag:
sjw.ch

neurodiversität

meret erhält vor 300 jahren das prädikat, mit dem heute so viele neurodivergente kinder abgestempelt werden: nicht beschulbar. raus aus der gemeinschaft, rein in die sonderschule

das unerständnis, das merets natürlichkeit entgegengebracht wird, kennen viele autist:innen. das leid, das meret deswegen widerfährt, möge ihnen erspart bleiben.

meretlein

beschreibung

meret überlebt die geschichte nicht, das macht schon das titelbild klar. sie ist ein außergewöhnliches kind, wird von allen geliebt, selbst von den tieren. aber sie hat ihren eigenen willen und weigert sich, in der schule zu lernen, und in der kirche zu beten verabscheut sie. deshalb wird sie von ihrer familie zu einem pfarrer in pflege geschickt – er soll sie „erziehen“.

die hoch tragische geschichte von gottfried keller (aus dem roman der grüne heinrich, 18. Jh.) ist hier neu erzählt, eng am original und dennoch modern und verständlich. die tagebuchform aus der sicht des pfarrers ist beibehalten, so dass die leser:in nicht ausweichen kann und sich die sicht und das leid der kleinen meret selber imaginiert.

leseprobe

4. Juni 1713
Heute ist das Meretlein mit den Bauernkindern in den Wald gestrolcht und hat im Teich gebadet. Wie meine Magd wahrheitsgemäss berichtet hat, war sie dabei nackt! Sie hatte ihr Busshemd, das ich ihr zu tragen befohlen hatte, ausgezogen und an einen Ast am Baum gehängt. Auch hat sie nackt getanzt und die anderen zu frechem Unfug angestiftet. Ich sah mich gezwungen, ihr allen Umgang mit den Dorfkindern zu verbieten. Ich habe sie in ihrem Zimmer eingesperrt und sehe keine Möglichkeit mehr, dass sie in Zukunft frei herumgehen darf. Sie wird im Haus bleiben müssen und nur dne Pfarrgarten nutzen, damit sie nie mehr auf solche Gedanken kommen kann.
Ich habe sie beträchtlich mit der Rute gezüchtigt und sie anschliessend in die Räucherkammer gesperrt.

22. Juni 1713
Vorgestern ist das Kind verschwunden! Den ganzen Tag haben wir gesucht. Ich liess die Mägde jeden Winkel im Haus durchsuchen und den ganzen Garten. Den Knecht hab ich sogar zum Wald laufen und nach dem Kind rufen lassen. Sie war nicht zu finden und tauchte auch am nächsten Tag nicht auf. Ich traute mich nicht, der gnädigen Frau zu schreiben von dem Verlust, zumal an dem Tag das Pflegegeld eingetroffen und wieder erhöht worden war.
Heute Mittag um 12 Uhr wurde sie endlich aufgespürt! Sie sass zuoberst auf dem Buchenloo in der Sonne. Sie sass völlig entkleidet auf ihrem Busshemd und wärmte sich. Sie trug ihr Haar offen und hatte einen Kranz aus Buchenlaub aufgesetzt. Um den Bauch trug sie eine Art Schal, der aus dem gleichen Laub geflochten war. Vor sich hatte sie eine Menge schöner Erdbeeren liegen gehabt, von denen sie sich voll und rund gegessen hatte. Als sie uns entdeckte, wollte sie erneut ausreissen. Wir konnten sie aber einfangen, weil sie zuerst in ihr Hemd schlüpfen wollte, wohl um ihrer gerechten Strafe zu entkommen. Der Knecht musste sie nach Hause schleppen, doch sie wehrte sich so sehr, dass ich selbst mit anfassen musste. Zu Hause tat ich an ihr, was ich tun musste. Jetzt ist sie verwirrt und scheint krank zu sein. Es ist kein vernünftiges Wort aus ihr herauszukriegen, obwohl ich sie tüchtig mit der Rute behandelte. So weiss ich nicht, wie sie die drei Tage überlebt, wo sie geschlafen, was sie weiter gegessen hat. So wahr mir Gott helfe, habe ich mein Möglichstes getan und habe nun starke Schmerzen im rechten Arm.

illustrationen

auszeichnung und übersetzungen

laura jurt hat mit den illustrationen den renommierten werkpreis 2015 der hans-meid-stiftung gewonnen.

dieses buch wurde in alle schweizer landessprachen übersetzt:
französisch (mérette)
italienisch (la piccola meret)
rätromanisch / vallader (merettina)
alle ausgaben kannst du hier bestellen, bitte unter anmerkungen die sprache angeben!

mein mann hat alzheimer

mein mann hat alzheimer

ratgeber, fachbuch

386 s. | text von rosa stutzer-krenn
14,8 x 21 cm | taschenbuch
bod 2020 || 25 fr. | 17,90 €
ISBN 978-3-7526-6819-3

mein mann hat alzheimer

ein langer, schwerer abschied

beschreibung

mein mann fliegt mit fast achtzig Jahren nach guatemala – allein, weil ich mich weigere, mitzugehen. er fliegt, obwohl alle es ihm abraten, die ärzte auch und ich erst recht, sogar schriftlich!
wir sind zuvor schon zweimal zusammen dort gewesen, ich wusste, wie es ausgehen würde. will er sich und uns allen beweisen, dass er gar nicht an alzheimer erkrankt sei?
kaum dass er angekommen ist, will er auch schon wieder nach hause; gebucht hat er für zwei monate! erst nach langer suche findet sich eine fluggesellschaft, die ihn überhaupt noch fliegen lässt – und nur, weil wir seine erkrankung verschweigen.
nach einer woche ist er zurück, und am nächsten tag bringen wir ihn mit dr. f. in die klinik. es ist der anfang einer jahrelangen leidensgeschichte, nicht nur für ihn.
allein zu hause, verfasse ich die notizen zu dieser schweren krankheit.

leseprobe

7      Meine Familie
11     Notizen über deutliche Symptome
15     Es wird schwieriger: Von Notizen zum Tagebuch
27     Befund Alzheimer – und jetzt?
47     Die Einweisung
79     Neuanfang im neuen Heim?
159    Nach zwei Jahren wieder ein Umzug – der letzte?
272    Schon fünf Jahre im Heim: Viel Routine und immer wieder kleine Überraschungen
355    Wieder zu Hause: Wie wird das gehen?

Befund Alzheimer – und jetzt?

16.09.05
Wir gehen zusammen nach Baar zu Dr. F. Robert muss einige Tests über sich ergehen lassen, passt ihm gar nicht. – Robert interessieren Politik und Weltgeschehen nur noch selten; auch mit dem Wetter und der Temperatur hat er Mühe!

25.09.05
Er muss immer weiter und bleibt doch stehen!
Spielen ein Domino, er wollte! Je länger wir spielen, umso schwieriger wird es für ihn, beim vorletzten Spiel wirft er mir die Steine hin; erschrecke mich. Und dann in einer Wut: „Du bist nicht mehr die Rosl. Mit den Kindern bist du lieb und nett, nur mit mir nicht, den ganzen Tag bist du gegen mich!“ Bin fertig! Muss gehen, aber räume erst die Steine in die Schachtel; er macht mit!

26.09.05
Komme vom Spazieren zurück: Robert: „Wo warst du? Warum sagst du nichts, wenn du fortgehst?“ Später: Er findet seine Brille nicht, meint, dass ich sie beim Betten runter geworfen hab. Sage ihm, dass ich sie nicht gesehen hab, er schreit mich an: Ich solle für drei, vier Wochen heimgehen, damit er zur Ruhe komme, er werde noch ganz krank wegen mir!

28.09.05
Heute ist er ziemlich nett zu mir – weil ich ihm von meiner Herzattacke erzählt habe?

29.09.05
Dr. F’s Befund: Alzheimer! Robert reagiert nicht darauf! Der Arzt sagt noch dies und das, was wir machen können und: je besser die Partnerschaft, umso besser für den Patienten! Für ihn ist es ganz einfach, da hat mir Dr. E. schon besser geholfen.

02.10.05
Robert fährt am Sonntag zur Migros, er erzählte es mir.

07.10.05
Bruno redet Robert wegen Alzheimer an, er: „Ich habe nicht Alzheimer.“

16.10.05
Robert ruft Andrea an, er sagt ihr, dass „wir“ mit dem Auto nach Amerika wollen und ob sie die Telefonnummer der US-Botschaft ausfindig machen könne? Uff, da hat er die Richtige gewählt! Bin ja froh, andrerseits möchte ich Robert eigentlich die Vorfreude nicht nehmen, obwohl es für mich unmöglich wäre. Er probiert es bei Thomas, auch er rät ihm, das Flugzeug zu nehmen. Später beginnt er wieder davon; er hat keine Ahnung, was da auf ihn zukommen würde – er glaubt, wo anders ginge es ihm besser.

23.10.05
Frage Robert, ob er etwas spielen will. Nein, er will, dass ich ihm helfe, dass Peti unsere Wohnung nicht verändert, nicht umbaut! Oder, dass Peti und Dominique auf der Heubühne schlafen könnten, mit uns zusammenwohnen. Was soll denn das? Später: Petis Pläne gefallen ihm doch. Es ist so schwierig.

24.10.05
Am Vormittag hat Robert noch das Pyjamaoberteil an. Sage ihm ganz freundlich, dass er es ausziehen soll, er schreit: „Nichts ist recht, ich mach so vieles, und du …“

25.10.05
Fahren nach Winterthur; nicht einfach. Es dauert, bis wir die Hyundai-Garage finden und jemanden, der ihm hilft, die Blätter der US-Botschaft auszufüllen. Der Mann erkennt, dass die Formulare für einen Import sind. Er rät ihm „von Herzen“ ab, mit dem Auto in die USA zu reisen! Hätte den Mann am liebsten umarmt!

01.11.05
Robert fährt nach Zug zu einem ehemaligen Schüler. Um halb zwei ruft er an und fragt, ob ich ihn abholen komme? Sage ihm, dass er ja das Auto hat. Dreimal ruft er an: Ich hätte ihm sagen sollen, dass er mit dem Bus fahren soll! Moni fährt mit mir nach Zug – wir halten nach Robert Ausschau, er sagte was von Landis & Gyr; wieder zurück. Und plötzlich steht er da, ganz verschwitzt, ohne Auto, er ist zu Fuss gegangen, weiss nicht, wo das Auto steht. Später fährt Katrina mit uns nach Zug, wir suchen das Auto in der ganzen Stadt, finden es dann in der Nähe der Guthirtkirche.

12.11.05
Robert redet mit Ernst im Keller: Dass er nicht anbauen will! Peti weiss noch nichts davon!
Robert hört viele komische Geräusche im Haus!

28.11.05
Um halb fünf steht Robert auf, kommt mit dem Foto­apparat zum Bett: „Warum hast du alles anders gemacht?“ Er zieht die Decke zurecht und macht ein Foto. Sagt, dass ich das zweite Foto hätte machen sollen. Als ich ihn frage, für was er fotografiert, winkt er nur ab; habe plötzlich Angst! Er geht wieder raus, kommt bald wieder ins Bett. Jede Stunde fragt er nach der Zeit, das Radio stellt er auch an. Am Morgen weiss er von nichts.

 

30.06.06
Robert ruft zweimal an: Er habe für John den Brief geschrieben und einen Brief vom Verwaltungsgericht bekommen. Wann ich komme? Bin dann schon um zwei bei ihm. Er hat eine Vorladung für den 4. Juli vor Gericht! Wie wird er da zurechtkommen?

01.07.06
Besuch ihn nicht. Er ruft gegen Abend an, höre Hildegards und Pauls Lachen!

02.07.06
John kann nicht mit, hilft Marina beim Zügeln. Robert ist ziemlich ruhig. Setzt mir Kirschen und Truffes vor. Frage ihn, wer das gebracht hat. Nach einer Weile weiss er es, aber Hildegards Name fällt ihm nicht ein.
Der bevorstehende Gerichtstermin macht ihm zu schaffen. Was er vorbringen will: Dass hier so viel geraucht wird und dass die Leute so unmenschlich sind!!! – Zum ersten Mal sagt er: „Du musst jetzt nach Hause.“

03.07.06
Roberts Zimmer ist verschlossen! Finde ihn auf der anderen Seite des Ganges, er geht mit mir in sein schon wieder neues Zimmer! Dieses Mal sei es ohne Schwierigkeiten gegangen, er sollte es hier ruhiger haben, seine Mitpatienten kommen hier nicht ins Zimmer! – Wir töggelen – ich verliere total. Dass er das noch so gut kann!?

04.07.06
Heute ist der Termin, wir warten. Erstaunlicherweise ist Robert frisch und fröhlich. Er erzählt uns einiges: „Wer wohl denen gesagt hat, dass ich mir das Leben nehmen wollte? Wie meine Frau es mit mir ausgehalten hat?“ Das Protokoll von dem Gespräch hätte ich gern. – Evelin muss leider auf den Zug. Wir wollten noch töggelen.

05.07.06
Den Besuch ausgelassen.

06.07.06
Wieder kommt Evelin mit. Robert ist nicht gut beieinander. Er fragt, warum wir so spät kommen und dass wir ja zwei Autos haben, ich solle eines auf dem Parkplatz lassen. Wir kommen wieder nicht zum Spielen.

07.07.06
Um neun vor dem Verwaltungsgericht: Muss etliche Fragen beantworten, alles wird protokolliert. Für Robert wird das ein schwerer Schlag sein – ich hätte es gern verhindert! – Mariantoinette kommt mit zu Robert. Es scheint, dass er keine guten Tage mehr hat. Er wollte abhauen, den Koffer hatte er gepackt. Er hat mit zwei jungen Frauen abgemacht, dass sie ihn rauslassen. Dass sie ihm dann nicht geholfen haben, macht ihn ganz fertig! Er tut uns so leid! Er glaubt immer noch, woanders wird es ihm besser gehen. Mariantoinette schaut mit ihm das Liederbuch an, das ich ihm gestern gebracht habe und sie singen. Unterdessen gehe ich schnell ins Büro.

08.07.06
Robert ist im Bett. Dasselbe wie gestern: Er möchte nur weg! Und nun muss ich ihn auch noch einige Tage alleine lassen, weil ich nach Graz fahre.

Ich werde viel an dich denken und für dich beten. Adiós, Roberto, meine ganze Liebe ist bei dir – bis Donnerstag.

13.07.06
Robert ärgert sich über die Akten, die er vom Gericht bekommen hat!!! Bin froh ist Peti da, er beschwichtigt ihn. Dominique hat Mühe mit all den Patienten, und die Zwillinge sind lieber bei den Ziegen. Sie bleiben nicht lange, haben Robert Kirschen und Himbeeren gebracht. Nehme davon für mich mit.
Übrigens war Robert wieder ausgerissen. Peti hat mich in Graz angerufen. Montag früh war er in Arth bei Agi und Gusti! „Sie waren ganz komisch“, meinte er, „nur schon, bis mal wer runterkam.“ Zu trinken habe er nur lauwarmes Wasser bekommen!
Am Dienstag hat er um sieben Uhr früh bei Peti in Cham geklingelt. Der brachte ihn dann nach Steinhausen, Robert probierte mit einem Schraubenzieher die Türe zu öffnen. Wusste er nicht, dass ich nicht zu Hause war? Suchte er mich? Die Polizei holte ihn wieder ab. Pobre Roberto.

14.07.06
Robert hat grosse Mühe mit den Kopien des Protokolls! Helfen darf ich nicht, er ist geladen! Er liest mir vor, darf es nicht selber lesen; interessant! Verabschiede mich früher, das Zuhören machte mich müde, zumal er immer wieder dasselbe liest!

16.07.06
Robert sitzt im Foyer, ihm gegenüber die grosse Frau. Er will erst nicht mit mir ins Zimmer. Gebe ihm die saubere Wäsche und einen Kuchen. Er tischt mir die letzten Kirschen auf. Dann geht er schauen, ob er was zu essen kriegt, scheinbar hat er zu wenig Zmittag bekommen. In der Küche bekommt er einen Teller und auch was zum Trinken. Gehe dann auch in die Küche, um ein Messer für den Kuchen zu holen; aber so einfach geht das nicht! Die Pflegerin muss zuerst die Schublade aufsperren. Schade, der Kuchen ist noch gefroren. – Wir töggelen und gehen dann wieder ins Zimmer. Robert probiert Unterhosen an. Seine alten will ich mitnehmen – er zieht sie wieder an, und ich habe keine Lust, was einzuwenden. Er legt sich ins Bett. Wir reden über Geld: Wir sollen nicht sein Geld brauchen. Da er mich nicht versteht, wird er laut! Zähle ihm auf, was an Rechnungen zu zahlen ist, aber das interessiert ihn nicht. Ob ich John schon gesagt hätte, dass er nie mehr wegen dem Geld was sagen würde? Er lasse halt alles sein. Dann noch was wegen einem Computer, ganz komisch! Und wieder, dass er seine Zähne machen lassen wolle. Hätte noch viele Fragen an ihn, es geht nicht mehr. Wieder kommen mir die Tränen, es ist so schwer.

17.07.06
Evelin und ich fahren am Vormittag in die Klinik. Ein anderer Pfleger ist da, er gibt mir ohne Weiteres das Protokoll mit Roberts Aussagen, auch das Schreiben von Dr. Z.
Robert ist im Bastelzimmer, malt schöne Sachen: Sommervögel und anderes. Er kommt dann mit uns ins Zimmer. Er habe heute einen Zusammenbruch gehabt! Will oder kann uns nichts Genaueres darüber sagen. Evelin aktiviert sein Handy. Kein Dank! Er redet durcheinander. Evelin spielt mit ihm.
Nach dem Mittagessen liest Evelin mir das Protokoll vor und das Schreiben. Wundere mich und bin froh drum. Haben viel zu lachen, dabei ist es doch so ernst!

18.07.06
Robert habe Probleme mit dem Anziehen neuer (!) Sachen und mit dem Waschen! Ansonsten gehe es ihm gut, er könne allerdings seine Krankheit nicht annehmen! Könne es aber gut mit den Mitpatienten, besonders schön, wenn Robert mit ihnen singt! Auch Basteln gefalle ihm und neuerdings Backen und Kochenhelfen. Erstaunlich sei, wie Robert körperlich noch gut beieinander ist, fast ein Nachteil für ihn! Er sehe zwanzig Jahre jünger aus! Besserung werde es nicht geben, wir sollten ihm die Zeit, die er noch hat, so angenehm wie möglich machen, besonders ich als Ehefrau und die ganze Familie! Wir könnten mit ihm auch draussen spazieren gehen, ihn auch mal übers Wochenende nach Hause nehmen! Frage dann grad, ob ich morgen mit ihm spazieren gehen könne? Da muss abgeklärt werden, ob jemand Zeit hat, mitzukommen. Also nur schon das ist nicht so einfach. Dann zu Robert. Auf mein Klopfen sagt er ganz freundlich Herein! Später ärgert er sich über eine ältere Pflegerin, die ihm erklärt, warum ich nicht mit in die Küche gehen darf. So kann ich gehen.
Wie wunderschön der Zugersee ist!