kein platz für uns

kein platz für uns

belletristik, jugendbuch

co-autorin noëmi sacher
448 s. |  11 sw-illustrationen von dinah wernli
15 x 21 cm | hardcover | mit lesebändchen
kwasi verlag 2024 || 33 fr. | 29 €
ab 15 Jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-34-3

rezensionen
neurodiversität

flora und elisabeth sind außenseiterinnen. wer mag, kann und wird sie als autistinnen sehen, die völlg unterschiedliche strategien des masking und der anpassung bzw. auflehnung verfolgen – so unterschiedlich, wie es die beiden autor*innen in ihrer jugend gemacht haben.
flora nimmt deutlich anders wahr. sie ist in ständigem kontakt mit der anderswelt, mit feen und dämonen, mit wassernixen und elfen. sie versteht nicht, warum andere diese wesen nicht sehen, aber sie entfernt sich von ihrer wahrnehmung als akt der anpassung. deutlich ist auch, dass sie mühe hat mit redewendungen und uneigentlichem sprechen (ironie, verstellung und lügen).
elisabeth fühlt sich unverstanden und angegriffen, weil niemand die welt so sieht, wie sie. sie entwickelt eine große wut auf das dorf, auf die ganze welt, als sie mit einem schlag ihre eltern verliert, ihren einzigen rückhalt. so isoliert sie sich völlig – bis flora kommt.

kein platz für uns

beschreibung

1806 zerstört der goldauer bergsturz vier dörfer, 457 menschen sterben und rüttelt das gesellschaftliche gefüge durcheinander.
das trifft auch flora und ihre herrin elisabeth. die beiden 17-jährigen außenseiterinnen suchen leidenschaftlich nach ihrem platz in der gemeinschaft:
flora, indem sie sich anpasst, elisabeth mit wütender auflehnung. das gegenseitige verständnis schweißt die beiden frauen zusammen, bis sie stärker sind, als es das dorf dulden kann.

ein sozialhistorischer roman über macht und ohnmacht, ordnung und unterordnung, liebe und wut, heimat und entwurzelung.

leseprobe

Elisabeth

Wahrscheinlich sollte ich weinen.
Die alten Vetteln werfen mir böse Blicke zu, vor allem die Harmettlerin. Die schaut so missbilligend, dass tiefe Furchen ihr Gesicht entstellen. Soll sie doch.
Ich habe keine Tränen. Auch keine Trauer. In mir ist es leer. Leer, während der Pfarrer den Segen spricht. Leer, während Vater heulend zusammensinkt. Leer, während ich dem Sarg zuschaue, der langsam ins Grab sinkt.
Die Blumen rutschen zitternd mit in die Tiefe. Die können nichts dafür, dass sie gleich mit Erde bedeckt werden. Sie haben niemandem etwas getan. Im Gegensatz zu all den Leuten hier, die Mitgefühl heucheln, obwohl sie uns hassen.
Und endlich spüre ich etwas. Erst heimlich im Bauch, dann heftiger, bis es brodelt. Und dann rauscht die Wut mit Wucht durch meine Brust. Sie ist mir willkommen. Wut auf das ganze Dorf! Auf die ganze Welt und auf Gott! Der immer nur so tut, als ob er gerecht wäre. Wut auf die Vetteln, die Mutter gehasst haben. Wut auf Vater, der ein jämmer­liches Bild abgibt. Sie lachen über ihn. »Wie er sich gehen lässt! Kein Rückgrat, keine Disziplin!« Und zerreißen sich über mich das Maul. »Kalt wie Schnee ist die. An der kannst du im Hoch­sommer den Most kühlen.« Und das Schlimmste: »Genau wie die Mutter.« Wie ich sie hasse!
Aber ich höre weg. Ich weiß ja, dass sie nur darauf warten, dass ich etwas Unüberlegtes tue. Dass ich mit den Händen in die aufgeschüttete Erde fahre und sie damit bewerfe. Meine Finger zucken bereits, und ich fühle, wie die Menge die Luft anhält.
Sie wollen es.
Sie wollen, dass ich um mich trete und heule. Sie warten darauf, genau wie die Krähen darauf warten, dass die letzten Soldaten das Schlachtfeld verlassen und sie sich auf die zurückgelassenen Leichen
stürzen können. Wenn der letzte Rest Selbstbeherrschung von mir abgefallen ist, werden sie sich auf mich stürzen. Sie werden meine schlechten Eigenschaften wie stinkende Eingeweide aus mir herausziehen und sich in ihrer moralischen Überlegenheit sonnen. Sie freuen sich darauf.
Allein dafür sind sie hergekommen.
Ich spüre, wie sich der Schrei in meinem Inneren aufbaut, wie der Zorn meine Brust aufwühlt und wie heiße Tränen – Tränen der Wut –
in meine Augenwinkel drängen. Und bevor ich etwas tue, was die Lästermäuler befriedigt, drehe ich mich um und renne davon. Blindlings.

Flora

Eine viertel Wegstunde gehn wir schweigend, bevor der Pfad wieder talabwärts führt. Mitten durch den Sumpf, und ich muss kichern, weil die feuchte Erde zwischen meine Zehen quillt. Und aufpassen muss ich, dass ich nicht ausrutsch. Der Bläsi hat mich noch geheißen, ich soll meine Kleider waschen, jetzt bin ich geputzt wie zu Ostern. Und da wärs ungeschickt von mir, dass ich die Röcke auf dem feuchten Boden verderb. Und dann müsst der Bläsi mich wieder mitnehmen, weil keine Herrschaft eine dreckige Magd in Dienst nimmt. »Nicht mal, wenn es Zwerge sind«, sag ich vor mich hin und muss schon wieder kichern.
Und dann bleib ich stehn, weil es mich so erstaunt, was ich seh. Vor uns stehn Häuser, aber die sehn nicht so anders aus als unsres. Was seltsam ist, das sind die Felsen, die zwischen ihnen liegen. Manche sind fast so groß wie die Häuser selbst. Dadurch sehn die tatsächlich so aus, als würden Zwerge darin wohnen, was natürlich nicht stimmt. Das seh ich jetzt auch. Die Felsen sind über die ganze Matte verteilt, als hätt eine Horde Riesen mit ihnen Murmeln gespielt. Und dazwischen wächst schönes, fettes Gras.
Jetzt dreht sich der Bläsi doch noch zu mir um. Und sagt endlich etwas, nämlich, dass die Steine wegen der Sündflut da liegen.
Die Geschichte hat mir die Katharina erzählt. Die ist aus der Bibel. Aber es leuchtet mir nicht ein, weshalb dann da Steine liegen sollen, wenn die Sündflut doch aus Wasser ist. Und dass die Sündflut gerade hier bei uns in Röthen gewesen ist, das hab ich mir auch nicht so vorgestellt. Aber mehr sagt der Bläsi nicht, und mir bleibt nichts übrig als ihm hinterherrennen, weil er geht schon wieder mit langen Schritten voraus.
Es ist seltsam, hier unten im Tal. Meine Füße laufen wie von allein. So, als ob sie gleich davonspringen wollen, wie junge Gitzi. Ich schau ihnen zu, wie sich eins so leicht vors andere setzt, und darüber verpass ich fast, wie wir ins Dorf kommen. Das erste Haus steht direkt am Weg. Es ist groß und hat einen riesigen Garten rundherum, und am Zaun wachsen Blumen in allen Farben. Ich hab noch nie gesehn, dass jemand Blumen im Garten pflanzt. Warum tun sie das? Die wachsen doch überall auf der Wiese. Aber der Bläsi lässt mir keine Zeit zum Staunen. Er geht einfach weiter. Da stehn noch mehr Häuser, und eins, das ist gar keins. Es sieht zwar so aus, aber es hat keine Zimmer, sondern unter dem Dach ist nur eine Brücke! So etwas hab ich erst recht noch nie gesehn. Warum baut jemand ein Dach über eine Brücke? Ich kann mir nur denken, dass dort ein Brückenwächter wohnt, ein Drache vielleicht. Und die Goldauer haben dem Wächter ein Dach gebaut, damit er gut auf die Brücke aufpasst. Das ist sehr lieb von ihnen. Der Fluss darunter schäumt aber auch sehr. Da ist es gut, dass sie den Brückenwächter gutmütig stimmen.
Direkt neben der Brücke steht ein großes Haus, und der Bläsi geht dort rein, während ich noch staun und mich umseh und es nicht fassen kann, dass diese Häuser zwei Reihen Fenster übereinander haben. Und dann folg ich dem Bläsi, und es ist alles so, als ob ich träumen würd: Ich steh in einem großen Raum mit Wänden aus ganz hellem Holz, und darin sind mehr Menschen, als ich je zusammen gesehn hab. Sie schwatzen und lachen laut, und der Bläsi, mein großer Bruder, der über alles Bescheid weiß und jedem die Meinung sagt, duckt sich an die Wand und schleicht um die Menschen herum, bis er einen entdeckt, den er anscheinend kennt. Er deutet auf mich, und jetzt merk ich, dass ich auch kleiner werd, als hätt jemand einen Zauber über mich gesprochen.
Aber da seh ich den Bläsi schon nicht mehr, denn mein Blick ist an einem wunderschönen Wesen hängengeblieben. Das muss ein Engel sein. Prachtvolle Locken hat er und Bänder in den Haaren, ein blaues Kleid umfließt ihn, und er spricht mit einem Mann, der Engel, in der himmlischen Sprache, mit einer warmen Stimme, aber verstehn tu ich nichts. Ich kann den Engel nur immer ansehn, und irgendwann wendet er seinen Blick zu mir. Ich hab noch nie einen Engel gesehn. Bei uns oben gibt es sie nicht. Feen schon, die sind auch sehr schön, wie sie in den Bäumen sitzen. Und dann und wann seh ich einen Drachen. Aber keine Engel. Ich schaue ihn mit offenem Mund an, und in diesem Moment weiß ich genau: Der Kari und der Josi haben unrecht, und es ist gut, dass der Bläsi mich hierhergebracht hat.

Elisabeth

Ich renne geradewegs auf die Friedhofsmauer zu. Sie ist nicht hoch, ich kann über sie hinwegspringen und verstecke mich auf der anderen Seite hinter der Linde. Das Versteck ist natürlich lächerlich, denn mir gegenüber ist die Sonne, und vor dem Eingang steht jemand. Eine Fremde. Sie schaut mich an. Mit großen Augen. Hat sie meinen Sturm über die Mauer beobachtet? Ich will das nicht! Ich bin schon drauf und dran, sie anzuschreien. Dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Dass sie verschwinden soll. Aber etwas hindert mich daran. Ich kann nicht anders, ich schaue sie genauer an. Sie kann nicht viel jünger sein als ich, sieht aus wie eine Bettlerin in ihren fadenscheinigen abgetragenen Röcken, von denen man unmöglich sagen kann, welche Farbe sie einmal hatten, und darunter schauen schmutzige Füße hervor. Verwahrlost von Kopf bis Fuß. Aber ihre Augen. Ihre Augen schauen mich freundlich an und so, als ob sie in mich hineinschauen könnten: ohne Argwohn, ohne Ekel, ohne Hinterhältigkeit.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mich schon einmal jemand so angeschaut hat.
Meine Wut kann sich nicht gegen sie richten. Schreien passt jetzt nicht. Aber was ich sonst tun soll, weiß ich nicht.
»Ich wart auf den Engel«, sagt das Mädchen. Fröhlich. Heiter. Und doch so, als ob sie ein Geheimnis nur mit mir teilen würde.
»Engel?«
Das Mädchen nickt. »Er ist da drin. Mein Bruder hat mich rausgeschickt, und jetzt wart ich. Vielleicht kommt der Engel raus.«
Ich frage mich, ob mit ihr alles stimmt. Mit Ausnahme der Leute in der Bibel kenne ich keinen, der je einen Engel gesehen hätte. Und was sollte ein Engel hier in Goldau?!
»Da!«, ruft sie und hüpft vor Freude. Sie strahlt die Frau an, die aus der Sonne kommt. Eine Fremde, wie sie im Sommer häufig anzutreffen sind. Sie tragen elegante Reisekleider, parlieren in fremden Sprachen, und alle müssen sie dringend auf den Rigi hinauf. Dann kommen sie zurück und schwärmen davon, wie wun-der-bar alles ist, wie romantisch und wild. Sie finden uns ent-zü-ckend, und ich finde sie zum Kotzen.
Jetzt kommt der durch und durch engelige Engel auf uns zu und reicht dem Mädchen einen Apfel, nicht ohne dabei gütig zu lächeln. Wahrscheinlich kommt die Frau sich jetzt vor wie Jesus, als er die Fische vermehrt hat.
Das Mädchen strahlt und ist drauf und dran, vor Dankbarkeit in die Knie zu sinken.
Ich räuspere mich vernehmlich, woraufhin mich die Frau abschätzig mustert. Ich habe ihren huldvollen Moment ruiniert. Tja. Sie geht zurück zu ihrer Reisegesellschaft, die sich um Anton schart. Den Apfel wird sie noch vermissen, wenn sie völlig außer Atem auf dem Staffel ankommt.
»Mir gefällt alles hier«, sagt das Mädchen zu mir und bietet mir den Apfel auf der flachen Hand an. Ich bin so überrascht, dass ich fast zugreife. Aber da fällt mir rechtzeitig ein, dass ein Apfel, so schrumpelig er im Frühling auch sein mag, für sie etwas Wertvolles sein könnte. »Lass nur«, sage ich abfällig, »davon haben wir noch genug im Keller.«
Schon wieder macht sie große Augen.
Ich fühle mich bei der Lüge ertappt, denn natürlich weiß ich nicht, was in unserem Keller noch vorrätig ist. Dafür ist schließlich Rosa da. »Woher kommst du denn?«, frage ich, obwohl ich nicht vorhatte, nett zu sein.
Sie deutet mit dem Apfel hoch zum Gnipen. »Ich bin das erste Mal im Tal.«
»Du wohnst dein ganzes Leben da oben und bist noch nie in Goldau gewesen?«, frage ich nach. Das muss ich mir auf der Zunge zergehen lassen.
»Noch nie.«
»Auch nicht in Buosigen oder Lauerz? Oder in Arth?«
Sie schüttelt den Kopf und lacht.
»Du warst dein ganzes Leben lang auf dem Berg!« Unvorstellbar. Aber dann … »Dann bist du noch nie in der Kirche gewesen?« Was für ein ungeheuerlicher Gedanke!
»Der Bläsi berichtet mir immer, was der Pfarrer gepredigt hat«, sagt sie, plötzlich ernst.
»Ja, aber warum gehst du nie mit in die Messe?« So viel Ketzertum!? Und das Mädchen sieht vollkommen gesund und zufrieden aus. Ich suche in ihrer Frisur nach Teufelshörnern. Vielleicht sprießen sie auch erst aus dem Kopf, wenn ich lange genug hinsehe.
»Der Bläsi findet das unnötig. Im Haus gibt es immer viel zu tun, weißt du. Früher ist noch die Katharina daheim gewesen, das ist meine Schwester. Aber jetzt mach ich die Frauenarbeit allein.«
Die sorglose Art, mit der sie das sagt, beeindruckt mich. Ich würde das auch gerne. Einfach die Kirche schwänzen und mir nichts dabei denken. »Und an Weihnachten?«
»Feiern wir im Wald.« Wieder zeigt sie hoch zum Berg.
Die Glocken der Kapelle schlagen an, und ich fahre zusammen. Die Beerdigung ist zu Ende! Jetzt werden gleich alle hier vorbeikommen und zum Leidmahl bei uns einkehren. Rosa ist schon seit Tagen am Vorbereiten. Sofort ist die Wut wieder da. Bekochen lassen sie sich natürlich trotzdem, all die Schandmäuler und Lästerzungen! Dabei war Rosa die Einzige aus dem Dorf, die immer zu Mutter gehalten hat. Von allen Menschen hätte sie zuvorderst am Grab stehen müssen, aber stattdessen hat sie ohne Pause gerüstet und gekocht und gedeckt. Nur für diejenigen, die froh sind, dass Mutter nun unter der Erde liegt. Die Ungerechtigkeit schnürt mir die Kehle zu, und ich verstecke mich hinter der Dorflinde. Ich will nicht gesehen werden. Und ich werde nicht dabei sein, wenn sie mit vor Neugier blitzenden Augen durch unser Haus ziehen und sich gegenseitig anstoßen und auf die Dinge zeigen, die ihrer Meinung nach nicht so sind, wie sie sein sollen.
Das Mädchen ist mir gefolgt und setzt sich auf die neue Bank. Ganz andächtig tut sie das und fährt mit den Handflächen über das glatt geschliffene Holz.
»Ich heiß Flora«, sagt sie.
»Elisabeth«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Und wundere mich wieder über mich. Warum antworte ich ihr überhaupt?

illustrationen

SUPERMA

SUPERMA

belletristik, kinderbuch

256 s. | 37 sw-illustrationen von andrea stergiou
15 x 21 cm | gebunden
kwasi verlag 2023 || 25 fr. | 23 €
ab 10 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-35-0

rezensionen
neurodiversität

pipe ist autist. seine ma beschließt, dass es so weit ist und er sich damit auseinandersetzen soll. sie schafft es, ihm aufzuzeigen, dass er ihr gar nicht so unähnlich ist. und sie ist selbst auch autistin.

natürlich weiß pipe schon lange, dass er besonders ist und anders als die anderen. als er sich aber aus seiner isolierung hinauswagt, findet er heraus, dass es andere gibt, die ihn verstehen und mit denen er sehr gut auskommt. er muss sich aber überwinden, denn diese anderen sind überhaupt nicht so, wir er sich seine möglichen freunde vorgestellt hat.

im nachwort erzählt matthias huber, psychologe und selbst autist, davon, wie es ist und was helfen kann, damit die soziale kommunikation und integration glückt.

SUPERMA

beschreibung

der elfjährige pipe hat zwei turbulente wochen vor sich – dabei ist ihm abwechslung ein graus. er liebt es, wenn die tage immer gleich ablaufen und gurke ihn möglichst in
ruhe lässt. doch jetzt mischt sich sofie in sein leben ein und behauptet, neu sofia zu heißen. milan, der viel älter und dick wie eine robbe ist, findet, sie seien kumpel. und
pipes mutter, die sich schon lange so peinlich benimmt, dreht nun völlig durch und rennt als angebliche superheldin durch die stadt: sie will pipes geklautes fahrrad
finden und nebenbei auch noch die welt retten. und natürlich findet pipes klasse doch noch raus, was sein name auf deutsch bedeutet.
pipe wünscht sich auch einen neuen namen, vor allem aber wünscht er sich auf den mond, denn dort ist es immer still und alles bleibt gleich. wie wunderbar!

leseprobe

Natürlich wäre es bequemer und schneller, wenn er sein Fahrrad bei der Schule abstellen würde. Aber das traut er sich nicht. Das Fahrrad haben seine Eltern gebraucht gekauft. Und das ist diesem Schrottteil anzusehen. Pipe ist das peinlich. Die anderen haben coole Bikes oder wenigstens richtige Fahrräder, die so teuer aussehen, wie sie waren. Seins kann er nicht vorzeigen, er würde garantiert ausgelacht werden. Dabei sind seine Eltern nicht etwa arm. Papa spielt Cello im Stadtorchester, Ma hat einen eigenen Frisier­salon. Nein, sie wollen ihm kein neues Fahrrad kaufen. Ma sagt: »Je mehr Neues es gibt, desto mehr Abfall gibt es auch.« Und Papa sagt: »Es ist ein solides Fahrrad. Das kannst du gut noch zwei Jahre fahren.«
Ausgerechnet in diesem Punkt sind sie sich einig! Sonst streiten sie über alles. Heute früh hat der Streit damit angefangen, dass Ma im Bademantel in die Küche gestapft kam und sich bei Papa beschwerte, dass er wieder nicht Wäsche gewaschen hat.
Papa sagte: »Ich wasche heute Nachmittag.«
Und Ma sagte: »Ach, und bis dahin geh ich nackt arbeiten?«
Pipe verschluckte sich an seinem Müsli.
Sara kicherte nur dämlich.
Sara ist seine kleine Schwester. Sie ist erst neun Jahre alt, hat nicht alle Tassen im Schrank und ist eins von Pipes größeren Problemen. Pipe braucht überhaupt keine Schwester. Dass er von allen möglichen Schwestern ausgerechnet Sara abbekommen hat, gehört zu den Dingen, für die er kein Verständnis aufbringt.
Papa meinte: »Du hast bestimmt noch etwas Sauberes zum Anziehen.«
Ma: »Ich brauch einen weißen BH. Die dunklen BHs schimmern durch die Bluse. Und heute hat der alte Stocker einen Termin, der weiß sowieso schon immer nicht, wo er hinschauen soll, wenn ich ihn rasiere.«
In diesem Moment hätte Pipe aufstehen und in seinem Zimmer weiteressen sollen, aber er schaffte es nicht mal, sich die Ohren zuzuhalten. Er brauchte alle Konzentration, um sich nicht vorstellen zu müssen, wie die Männer im Quartier auf Mas Busen starren.
Und er weiß ja, dass Ma nichts auslässt, was peinlich ist. Sie macht so viele Dinge, die sonst niemand macht, und merkt nicht mal, wie peinlich die Leute das finden. Und sie begreift auch überhaupt nicht, wie schlimm das für Pipe ist. Wenn er es ihr sagt, lacht sie nur und sagt: »Ach, nimm doch nicht alles so ernst.«
Papa erklärte: »Ich hab erst letzte Woche Unterwäsche ge­waschen. Du hast sicher noch was im Schrank.«
Ma: »Das war vor mindestens drei Wochen.«
Papa: »Quatsch, drei Wochen. Niemals!«
Ma: »Und nein: Ich hab keinen weißen BH mehr im Schrank. Dort hab ich nämlich gerade nachgeschaut. Ich könnte aber den quietschgelben anziehen, den mit den Kuss­mündern drauf, den ich für Fasching gekauft habe. Da freut sich der alte Stocker.«
Papa schlug vor: »Zieh halt eine dunkle Bluse an.«
Ma lachte schrill. »Genau, damit jedes Haar drauf zu sehen ist. Wasch doch nicht immer im letzten Moment. Der Wäschekorb muss ja nicht dauernd überquellen.«
Papa: »Der Wäschekorb ist gerade mal halb voll. Und ich hab ja gesagt, dass ich heute wasche.«
Und Ma: »Du warst gestern den ganzen Tag zu Hause, hättest gut gestern waschen können.«
Papa erklärte, dass er nicht den ganzen Tag rumsitze, sondern auch noch ein paar Stunden Cello üben müsse.
An diesem Punkt gab Pipe es auf, sein Müsli aufzuessen, denn er wusste, was folgen würde: die Diskussion, wer von beiden mehr arbeite, was richtige Arbeit sei, wer eigentlich mehr im Haushalt mache und sich besser um die Kinder kümmere. Er wollte nicht dabei sein, wenn entweder Ma anfing zu schreien oder Papa sich wortlos in sein Zimmer zurückzog. Oder beides. Er stand auf und machte sich auf den Schulweg.

illustrationen

 

meretlein

meretlein

meretlein

jugendbuch, belletristik

40 s. | 6 doppelseitige sw-illustrationen von laura jurt
originaltext von gottfried keller
14,8 x 21 cm | klammerheftung
sjw 2012 || 7 fr. | 6 €
ab 12 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-7269-0617-7

rezensionen

Bruno Blume hat den Originaltext aus dem Grünen Heinrich so bearbeitet, dass auch heutige Jugendliche ihn verstehen können. Dabei hat er es geschafft, den Duktus der Sprache aus dem 19. Jahrhundert beizubehalten, so dass wir auch die historische Perspektive erfassen. Die Geschichte des hochbegabten, fantasievollen Mädchens, das nicht in die gottesfürchtige Zeit passt, hat seine Aktualität nicht verloren. Zwar geschieht es kaum mehr, dass Kinder wegen Ungehorsams geschlagen werden, dennoch sind wir weit davon entfernt, sagen zu können, dass Kinder nicht mehr misshandelt werden. Gerade die Verfremdung durch die Vergangenheit vermag, dass Jugendliche leichter über ihre diesbezüglichen Probleme sprechen können. Laura Jurts prägnante Zeichnungen unterstützen den Text in dessen Interpretation ausgezeichnet.
elisabeth tschudi-moser, pädagogisches zentrum basel-stadt, kjl.edubs.ch

„Was ist es, das mich so fesselt? Auf dem Cover des kleinen Heftchens blickt mich das Gesicht eines jungen Mädchens an. Seine Stirn ist bleich, die Augen groß und ernst. Seine Haare und der Hintergrund sind in rot gehalten. Die Farbe des Lebens, die Farbe des Feuers, die Farbe des Sterbens. Hinter der bleichen Haut leuchten grau die Augen des Todes. Hinter verschlossenen Lippen blitzen die Zähne im Schädel auf. Leben und Tod in einem. Empfunden und gezeichnet von der Schweizerin Laura Jurt, die Meretlein aus Gottfried Kellers Der grüne Heinrich das Antlitz verliehen hat […], dass es mich beim Lesen und Blättern schaudert.
Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das etwas Besonderes ist. Nun sind zwar alle Kinder etwas Besonderes – aber nicht jedes Kind erfährt Verständnis und Zuneigung, wenn es wirklich besonders ist, also anders ist als die anderen. Und besonders auffällig sind die, die sich den Regeln der gängigen Erziehung verweigern oder sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Konsens entziehen. […] Das Meretlein soll ein liebliches, ein zartes, ein schönes Kind gewesen sein. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird das Mädchen in Pflege zu einem Pfarrer auf das Dorf gegeben. Damit er es an Kindesstatt annehme und erziehe. Was dann an diesem Un-Ort geschieht, entfaltet […] eine Wucht, die uns noch heute das Herz zusammenkrampft. So notiert der Pfarrer in sein Tagebuch: Da sie die Bettdecke über den Kopf zieht, wenn ich abends mit ihr beten will, habe ich die Decke entfernen lassen. Muss sie nun frieren nachts, wird ihr das auf den rechten Weg helfen. Oder: Der kleinen Meret habe ich ihre wöchentlich zustehende Strafe erteilt. Dazu habe ich mir eine neue Rute besorgt, die ihr Werk ausgezeichnet verrichtet. Später wird sie in eine Räucherkammer eingesperrt, noch stärker gezüchtigt, einer Hungerkur ausgesetzt. Hilfe von anderen wird vereitelt. Mehrmals entwischt sie. Läuft zum See, springt ins Wasser, vergräbt sich in die Erde. Diese kleinen Fluchten werden noch intensiver durch die sehr klaren, einfachen schwarz-weiß Grafiken von Laura Jurt.
Das geht so lange, bis das Mädchen ganz und gar eingesperrt wird. […] Es ist die letzte Maßnahme, die der Pfarrer im Namen des Herren anwendet. Meretlein stirbt. […] Er hat sie von nun an auf dem Gewissen.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Das passiert heute noch. Weil sie Angst vor dem Anderen haben.“
annette maennel, weibblick.com

„Der Pfarrer hatte den Verlauf seiner Misshandlungen akribisch in einem Bericht festgehalten […]. Das Meretlein verblieb im Gedächtnis  als diejenige, die Fische und andere Tiere bannen und alle Menschen um sich herum verliebt machen konnte. Es ist eine Künstlerin!“
carola muysers, berlin-woman.de

„Bruno Blume hat diese eindrückliche, Spuren hinterlassende Geschichte in unsere Sprache gesetzt. Das Cover […] verrät, dass etwas Vergangenes, Trauriges drin steckt. In der Oberstufe einsetzbar bei historischen Tatsachenberichten. Ergreifend!
r. müller, kklick.ch

links

illustratorin:
laura jurt

verlag:
sjw.ch

neurodiversität

meret erhält vor 300 jahren das prädikat, mit dem heute so viele neurodivergente kinder abgestempelt werden: nicht beschulbar. raus aus der gemeinschaft, rein in die sonderschule

das unerständnis, das merets natürlichkeit entgegengebracht wird, kennen viele autist:innen. das leid, das meret deswegen widerfährt, möge ihnen erspart bleiben.

meretlein

beschreibung

meret überlebt die geschichte nicht, das macht schon das titelbild klar. sie ist ein außergewöhnliches kind, wird von allen geliebt, selbst von den tieren. aber sie hat ihren eigenen willen und weigert sich, in der schule zu lernen, und in der kirche zu beten verabscheut sie. deshalb wird sie von ihrer familie zu einem pfarrer in pflege geschickt – er soll sie „erziehen“.

die hoch tragische geschichte von gottfried keller (aus dem roman der grüne heinrich, 18. Jh.) ist hier neu erzählt, eng am original und dennoch modern und verständlich. die tagebuchform aus der sicht des pfarrers ist beibehalten, so dass die leser:in nicht ausweichen kann und sich die sicht und das leid der kleinen meret selber imaginiert.

leseprobe

4. Juni 1713
Heute ist das Meretlein mit den Bauernkindern in den Wald gestrolcht und hat im Teich gebadet. Wie meine Magd wahrheitsgemäss berichtet hat, war sie dabei nackt! Sie hatte ihr Busshemd, das ich ihr zu tragen befohlen hatte, ausgezogen und an einen Ast am Baum gehängt. Auch hat sie nackt getanzt und die anderen zu frechem Unfug angestiftet. Ich sah mich gezwungen, ihr allen Umgang mit den Dorfkindern zu verbieten. Ich habe sie in ihrem Zimmer eingesperrt und sehe keine Möglichkeit mehr, dass sie in Zukunft frei herumgehen darf. Sie wird im Haus bleiben müssen und nur dne Pfarrgarten nutzen, damit sie nie mehr auf solche Gedanken kommen kann.
Ich habe sie beträchtlich mit der Rute gezüchtigt und sie anschliessend in die Räucherkammer gesperrt.

22. Juni 1713
Vorgestern ist das Kind verschwunden! Den ganzen Tag haben wir gesucht. Ich liess die Mägde jeden Winkel im Haus durchsuchen und den ganzen Garten. Den Knecht hab ich sogar zum Wald laufen und nach dem Kind rufen lassen. Sie war nicht zu finden und tauchte auch am nächsten Tag nicht auf. Ich traute mich nicht, der gnädigen Frau zu schreiben von dem Verlust, zumal an dem Tag das Pflegegeld eingetroffen und wieder erhöht worden war.
Heute Mittag um 12 Uhr wurde sie endlich aufgespürt! Sie sass zuoberst auf dem Buchenloo in der Sonne. Sie sass völlig entkleidet auf ihrem Busshemd und wärmte sich. Sie trug ihr Haar offen und hatte einen Kranz aus Buchenlaub aufgesetzt. Um den Bauch trug sie eine Art Schal, der aus dem gleichen Laub geflochten war. Vor sich hatte sie eine Menge schöner Erdbeeren liegen gehabt, von denen sie sich voll und rund gegessen hatte. Als sie uns entdeckte, wollte sie erneut ausreissen. Wir konnten sie aber einfangen, weil sie zuerst in ihr Hemd schlüpfen wollte, wohl um ihrer gerechten Strafe zu entkommen. Der Knecht musste sie nach Hause schleppen, doch sie wehrte sich so sehr, dass ich selbst mit anfassen musste. Zu Hause tat ich an ihr, was ich tun musste. Jetzt ist sie verwirrt und scheint krank zu sein. Es ist kein vernünftiges Wort aus ihr herauszukriegen, obwohl ich sie tüchtig mit der Rute behandelte. So weiss ich nicht, wie sie die drei Tage überlebt, wo sie geschlafen, was sie weiter gegessen hat. So wahr mir Gott helfe, habe ich mein Möglichstes getan und habe nun starke Schmerzen im rechten Arm.

illustrationen

auszeichnung und übersetzungen

laura jurt hat mit den illustrationen den renommierten werkpreis 2015 der hans-meid-stiftung gewonnen.

dieses buch wurde in alle schweizer landessprachen übersetzt:
französisch (mérette)
italienisch (la piccola meret)
rätromanisch / vallader (merettina)
alle ausgaben kannst du hier bestellen, bitte unter anmerkungen die sprache angeben!

könig lear

könig lear

shakespeares könig lear

belletristik, jugendbuch

48 s. | mit 6 ganzseitigen sw-illustrationen von anke feuchtenberger
18,6 x 29,6 cm | klappenbroschur
kwasi verlag 2016 || 20 fr. | 19 €
ab 14 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-21-3

rezensionen

„Blume präsentiert Lesarten der Stücke für erwachsene Shakespeare-Fans und entdeckungsfreudige Jugendliche […] lässt dabei tief in die Seelen von Shakespeares Frauenfiguren blicken. […] Blume inszeniert starke Frauen – und hat sich fünf starke Künstlerinnen an seine Seite geholt. Es sind ihre Bilder, die dieses Projekt besonders und die eine Auseinandersetzung auch ausserhalb des Literaturunterrichts reizvoll machen. Denn mit ihren unterschiedlichen llustrationsstilen und Blickwinkeln legen auch sie neue Lesarten frei, indem sie sich von Althergebrachtem lösen, […] Akzente verschieben, […] Gefühlswelten in den Vordergrund rücken oder das Geschehen in unsere Zeit versetzen.“
marlene zöhrer, berner zeitung

„Ganz schön mutig: Der Schweizer Kinder- und Jugendbuchautor Bruno Blume hat im vergangenen, reich bespielten Shakespeare-Jahr Adaptionen der fünf späten Tragödien für interessierte jugendliche (aber auch erwachsene) LeserInnen vorgelegt […]. Neu, anders, besonders bei Blume: An die Stelle der Akte sind innere Monologe (mit eingearbeiteten Dialogen) getreten, welche die Handlung aus wechselnden Perspektiven erzählen und interpretieren, was Blume erlaubt, zu
psychologisieren oder auch die weiblichen Figuren stärker zu akzentuieren. Die Hauptstränge der Plots sind zwar bewahrt, doch anders geflochten, Komplexität und Umfang der Originale […] reduziert. “
dr. deborah keller, buch&maus 1/17

links

illustratorin:
anke feuchtenberger

verlag:
kwasi-verlag.ch

neurodiversität

shakespeare lesen ist anstrengend, einerseits weil es theaterstücke sind, andererseits weil viel zeitcouleur und viele nebenhandlungen drinstecken.
in dieser ausgabe ist die geschichte gestrafft, kleine nebenrollen sind getilgt, abschweifungen fehlen, die taten der figuren sind psychologisch begründet – ideal für autist:innen und andere hochsensitive, die einfach der hoch aktuellen geschichte folgen möchten.
und benimmt sich könig lear nicht selbs wie ein autist? und seine töchter?

shakespeares könig lear

beschreibung

es beginnt wie im märchen und endet mit der totalen kata­strophe: der alte könig plant die übergabe der macht an die nächste generation minutiös, ohne jedoch seine drei töchter in die entscheidung einzubinden. sie sollen seinen plan absegnen und für seine rente aufkommen.
das konfliktpotential wird voll ausgeschöpft: machtkampf, generationenkonflikt, geschwisterneid, verweigerung, verblendung, verleumdung.

drei schwestern auf der suche nach einem lebbaren verhältnis zu ihrem vater zwischen hass und liebe und gleichgültigkeit.

leseprobe

„Nein, die können mir nicht wegen Münzprägen. Ich bin der König.“
„Mylord, erkennt Ihr mich?“
„O lala. Goneril mit grauem Bart. Die haben mich wie Hunde fort und hätte weißes Haar im Bart. Der Regen kam, mich nass zu machen, und der Wind mich donnerte. Zu allem Ja und Nein. Ich habe sie geschmeckt, die falsche Schlange. Ihre Worte, o gelogen und ich nicht schüttelfrostgeschützt.“
„Mylord, wie viele Töchter habt Ihr?“
„Wenn ich so starre und die Hand erhebe, wie erbebt der Untertan vor mir! Zwei Schlangen, eine galliger, die andre auch. Was dein Verbrechen? Bist du Ehebruch? Der Bastard liebt nicht seinen Vater mehr als meine Töchter. Mich. Ich würd’s dir zeigen, aber ’s fehlen die Soldaten. Durch das Unter­höschen affektierter Damen. Ihre Lippen sagen Schnee voraus in ihrem Schritt. So eisig, eisig. Tugend, ja, ja! Bis sie Königinnen übers halbe Reich. So geile Luder sind’s hüftabwärts, noble Damen nur darüber. Brüste nie gesäugt ein Kind, wie sie eins waren. Löcher schwarz und schweflig brennt’s, versengte mich mit Stumpf und Stiel. Nimm deinen Sold.“
„Mylord, kennt Ihr Cordelia?“
„Niemand sündigt! Niemand, sag ich dir. Der Taschendieb wird stets erkannt durchs Loch im Lumpenkleid. Seide und auch Pelz verbergen jedes Laster vor dem Richterblick. Vergolde jede Sünde, und das Schwert des Rechts verfehlt sie klar. Bewaffne Sünde dann mit Lumpen, und ein Strohhalm fädelt mühelos sie auf. Drum kauft ihm Glasaugen, so sieht er besser als ein Richter. Will er mein Unglück beweinen, nimmt er meine Augen. Denn wenn wir geboren werden, schreien wir, weil wir auf diese Narrenbühne draufge­worfen wurden.“
Ich halt’s keine Sekunde länger aus. Eher sterbe ich, als ihn so zu lassen. Ärzte, Heiler, Magier, zeigt her Eure Künste. Zu ihm jetzt, auch mit zitternden Knien.
„Seht, kennt Ihr diese Dame?“
„Ich bin auf einem Rad aus Feuer festgebunden. Tränen kochen. Schmelzend Blei sind meine, meine Augen.“
„Wie geht es Eurer Majestät? Erkennt Ihr mich?“
„Du bist ein Geist, ich weiß schon. Wo bist du gestorben?“
„Weit, weit weg und lange, lange her.“
„Wo war ich da? Und wo bin ich jetzt? Ist’s heller Tag? Ich kann nicht schwören, dass dies meine Hand ist. Wollt, ich wäre sicher ich. Versichert.“
„Seht mich an, Sir. Segnet mich.“
„Verspott mich nicht. Bin achtzig. Alter Mann ohne Verstand. Tand. Sand von Dover. Kann mich nicht erinnern, wer ich bin. Wo bin ich. Wo hab ich zuletzt geschlafen. Aber ich, falls ich ein Mensch bin, denk, dass diese Dame müsst mein Kind Cordelia sein.“
„Und ich bin es, bin es.“
„Nicht weinen, Kind. Machst dich ganz nass. Sag, hast du Gift für mich? Ich nehm’s. Du hasst mich. Und mit Grund. Du ja, die nicht.“
„Keinen Grund, wirklich nicht.“
„Nachsicht. Bin verrückt. Kaputt.“
„Legt Euch schlafen, Vater. Schlaft Euch aus. – Bringt ihn ins Lager, und legt ihn auf mein Bett.“

illustrationen

zusätzliche informationen

„Der alte König Lear denkt rechtzeitig an die Über­gabe der Herrschaft an die Jüngeren. Er will sein Reich dritteln und seine Macht unter seinen drei Töchtern aufteilen. Als einzige Gegenleistung verlangt er das Bekenntnis zu ihm: Weil ihr mich liebt, ergo weil ich liebenswert bin, teile ich mit euch. Und weil ich das vorbildlich mache, behalte ich den Ehrentitel des Königs, und ihr müsst für mich sorgen bis zu meinem Ende. Lear will einen Teil der Macht behalten, aber die ganze Last abgeben. Und gefragt, wer von seinen Töchtern denn eigentlich die Macht übernehmen möchte, hat er auch nicht. – Keine der drei, so unterschiedlich sie sind, will und kann so leben.
Die Jüngste ist die Einzige, die ihn wirklich liebt – und verweigert sich dem Befehl, ihre Liebe zu erklären. Schon in dieser ersten Szene zeigt sich der Charakter des Vaters: Wer meine Bedingungen nicht erfüllt, verliert alles. Er enterbt und verbannt seine jüngste Tochter auf der Stelle! Die Mittlere möchte gar nicht herrschen. Ihr drängt er die Krone und das halbe Reich auf. Sie passt nicht in das väterliche duale Weltbild des Alles-oder-nichts. Die Frage nach ihrer Liebe beantwortet sie ausweichend: so wie meine große Schwester. Diese heuchelt schamlos und nimmt alles, was sie kriegen kann. Sie ist wie der Vater und richtet am Ende so wie er am Anfang über sich und die anderen.
Es zeigt sich der fundamentale Gegensatz von Kopf und Herz: Lear hätte seiner Jüngsten, die er am meisten liebt, nur zu gern alles gegeben, ist aber einem vagen Gerechtigkeitssinn gefolgt und hat das Gegenteil dessen gemacht, was er an sich als richtig empfindet. Alles weitere Scheitern, die Demütigungen und der verfrühte, unglückliche Tod sind die Folgen dieser Entscheidung.
Wie gehen wir mit unseren alten Eltern um? Mit ihrer Sturheit des Alters, dem nicht versiegenden Anspruch auf Gehorsam? König Lear steht als mächtiges Beispiel für unsere Eltern und für uns selbst in der Überzeugung, gute Eltern zu sein.“
kwasi verlag

macbeth

macbeth

shakespeares macbeth

belletristik, jugendbuch

48 s. | mit 6 ganzseitigen, farbigen illustrationen von jacky gleich
18,6 x 29,6 cm | klappenbroschur
kwasi verlag 2016 || 20 fr. | 19 €
ab 14 jahren und für erwachsene
ISBN 978-3-906183-23-7

rezensionen

„Ganz schön mutig: Der Schweizer Kinder- und Jugendbuchautor Bruno Blume hat […] Adaptionen der fünf späten Tragödien für interessierte jugendliche (aber auch erwachsene) LeserInnen vorgelegt […]. Neu, anders, besonders bei Blume: An die Stelle der Akte sind innere Monologe (mit eingearbeiteten Dialogen) getreten, welche die Handlung aus wechselnden Perspektiven erzählen und interpretieren, was Blume erlaubt, zu psychologisieren oder auch die weiblichen Figuren stärker zu akzentuieren. Die Hauptstränge der Plots sind zwar bewahrt, doch anders geflochten, Komplexität und Umfang der Originale […] reduziert. “
dr. deborah keller, buch&maus 1/17

links

illustratorinnen:
susanne janssen

verlag:
kwasi-verlag.ch

neurodiversität

shakespeare lesen ist anstrengend, einerseits weil es theaterstücke sind, andererseits weil viel zeitcouleur und viele nebenhandlungen drinstecken.
in dieser ausgabe ist die geschichte gestrafft, kleine nebenrollen sind getilgt, abschweifungen fehlen, die taten der figuren sind psychologisch begründet – ideal für autist:innen und andere hochsensitive, die einfach der hoch aktuellen geschichte folgen möchten.

und was hat macbeth, der grenzüberschreitende machtmensch, mit autist:innen gemeinsam?

shakespeares macbeth

beschreibung

lady macbeth gilt als eine der bösesten frauen­figuren der weltliteratur. sie verführt ihren mann zum mord am könig, um selbst königin zu werden. als er zögert, schleudert sie ihm entgegen: „ich hab gestillt, ihm meine liebe froh gegeben. und hätt doch ihm meine warze aus dem mund gezerrt und ihm das hirn zu brei zerschlagen, wenn’s drauf angekommen.“

wie sind die rollen dieses liebespaares wirklich verteilt? was kettet sie zusammen, was projizieren sie aufeinander? was verhindert, dass sie miteinander reden können, und lässt sie auf dem gemeinsamen weg scheitern?

leseprobe

Endlich schläft sie. Du meine Güte. Wäre sie nicht Königin, ich müsste denken, sie wär verrückt. Redet immerzu vor sich hin, wenn sie glaubt, sie ist allein. Ich belausche sie, werde aber nicht schlau daraus. Vor allem hat sie es mit Blut. Wer da blutet, begreif ich nicht, oder warum. „Blutiges Kind“, wiederholt sie ständig, „mein blutiges Kind.“ Mein Gott, welches Kind? Sie hat ja keins. Nicht mehr. Oder sie zuckt so mit den Händen, wirft sie so hin und her, als ob sie sehr beschäftigt wäre und Dinge täte, die niemand sieht. Vielleicht kommt’s davon, dass sie als Königin keine Arbeit hat. Den ganzen Tag nichts tun, na, ich weiß nicht. Hört sich ja ganz gut an. Aber das wird dann eben langweilig. Und so viel allein, weil der Herr immer unterwegs war. Jetzt regiert er immer und hat Besprechungen. Ja, dann fangen die Hände an, so zu tun. Das kann ich schon verstehen. Aber was sie tut, so als ob, das erkenn ich nicht. Sie macht die Bewegungen nur so halb. Und spricht auch nicht alles aus. Immer halbe Sätze. Als ob sie Geheimnisse hätte. Oder lieber gleich wieder vergessen würde, was sie denkt.
Der Doktor hat sie untersucht, aber er hat immer nur gelächelt und mit dem Kopf gewackelt. Ich hab gleich gemerkt, der findet nichts so mit dem Magen oder mit dem Herz. Es muss was andres sein, mehr tiefer drin in ihr. Ob da ein Doktor drankommen kann? Geht ja nicht, dass sie aufgeschnitten wird, nur zum Nachschauen. Aber er hat gemeint, er kommt noch mal heute Nacht, als ich ihm gesagt habe, dass sie immer nicht schläft. Ich hör sie herum­gehen und in ihren Kleidern wühlen. Und dann redet sie wieder, aber ich weiß nicht, ob sie wach ist. Ich hab schon gehört, dass es welche gibt, die schlafwandeln. Kann schon sein, dass sie das macht. Sonst versuch ich immer, wieder einzuschlafen, wenn sie so rumort und mich weckt. Heute gehe ich mit dem Doktor und schau mir das an. Er ist ja viel gescheiter als ich und kann vielleicht verstehen, was sie spricht. Aber ich hab ihm ange­sehen, dass er lieber nicht herkommen würde. Kann aber nicht wegbleiben, da ist Befehl eben Befehl. Er hat Angst vor dem König. Ich versteh das. Sag dem König, seine Frau ist krank, schon wirst du für die schlechte Nachricht aufgehängt. Der kann ja machen, was er will. Sagt ihm ja niemand Halt.
So viele sind jetzt schon tot, die nur ein bisschen aufgemuckt. Nicht, dass ich was davon verstünde. Aber mein Vetter hat mir erzählt, wie’s in der Stadt zugeht. Keiner traut da keinem mehr, sagt er. Wer was Falsches sagt, kann noch am Abend baumeln, wenn’s in die falschen Ohren dringt. Ich glaub ihm das und hab zu ihm gesagt, er soll sich vorsehen, damit er nicht an die Falschen kommt. Er hat gesagt, er ist ja nicht dumm, und dass er lieber gar nichts mehr sagt.

illustrationen

zusätzliche informationen

„Macbeth ermordet den König, um selber König zu werden. Aber als Herrscher muss er weitermorden, um sein dunkles Geheimnis zu wahren. Er sucht Hilfe bei den weird sisters, die ihm zuvor schon prophezeit haben, dass er Than von Cawdor werde – was gleich darauf eingetreten ist – und später König. Nun erhält er die Vorhersage, dass ihn keiner besiegen könne, der von einer Frau geboren wurde. Macbeth folgert daraus, dass er unbesiegbar sei, doch auch dieser Glaube schenkt ihm keine Ruhe, bis es zur finalen Schlacht kommt.
Warum aber hat er den König umgebracht, da er ja an die Prophezeiung glaubt, also auch ohne Mord König geworden wäre? Eine wichtige Rolle spielt seine Frau, Lady Macbeth, die ihn zum Mord drängt, den sie als „grausame Notwendigkeit“ sieht. Ist sie also die Böse, die Eva, die ihn verführt?
In dieser Fassung spielt sie die Hauptrolle. Sie kennt ihren Mann genau, seinen Drang zu Größe, seinen unbedingten Willen, und sie erkennt sein Sehnen: „Du willst König sein.“ Aus ihrer Liebe heraus unterstützt sie ihn dabei, handelt, um ihre Beziehung zu erhalten, und kann ihn überzeugen: „Es ist das Schicksal selbst, das uns als Gast den König hergeführt. Es prüft uns! Der Schicksalsspruch ist vage, unser König noch nicht alt. Bleibt er noch vierzig Jahre auf dem Thron, was hast du dann vom Königsein als alter Greis?“ Doch die Morde sind nicht wie das soldatische Töten auf dem Schlachtfeld. Sie vergiften die oberflächliche Freude an der Macht, reißen alte Wunden auf. Als Lady Macbeth sich ihrem Mann schließlich doch noch in den Weg stellt, ist es zu spät.
Was also ist Schicksal? Gibt es das gar nicht, muss es erduldet werden, oder lässt es sich aktiv beeinflussen und gestalten? Und ist einer Vorhersage des eigenen Schicksals zu trauen? Wie lassen wir uns verführen von Horoskopen, Versprechungen, Vermutungen? Wie oft und mit welchen Mitteln setzen wir uns durch, wenn Ansprüche aufeinander­prallen und es heißt: ich oder sie?“
kwasi verlag